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Der dritte Schimpanse

Der dritte Schimpanse

Titel: Der dritte Schimpanse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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über­rascht nicht, daß sich darunter Wörter wie »Bruder« und »Himmel« befinden, die es vom Beginn der menschli­chen Sprachentwicklung an gegeben haben muß. Doch es sollte im Urindogermanischen kein Wort für »Ge­wehr« geben, da dessen Erfindung erst um 1300 n. Chr. erfolgte, also lange, nachdem sich UIG-Sprecher bereits geographisch ausgebreitet und zum Beispiel in der Tür­kei und in Indien völlig verschiedene Sprachen entwickelt hatten. Und so werden denn auch für den Begriff »Gewehr« in verschiedenen indogermanischen Spra­chen ganz unterschiedliche Wortstämme benutzt : gun im Englischen, fusil im Französischen, ruzhyo im Rus­sischen usw. Der Grund liegt auf der Hand : Die ver­schiedenen Sprachen konnten unmöglich den gleichen Stamm aus dem Urindogermanischen übernehmen, so daß jede von ihnen nach Erfindung des Gewehrs ein neues Wort dafür schöpfen oder entlehnen mußte.
    Dieses Beispiel veranlaßt uns dazu, eine Reihe von Er­findungen mit bekanntem Zeitpunkt zu betrachten und herauszufinden, welche von ihnen rekonstruierte Na­men in UIG haben und welche nicht. Alles, was – wie das Gewehr – nach dem Beginn des Zerfalls der ein­heitlichen urindogermanischen Sprache erfunden wur­de, sollte demnach keinen rekonstruierten Namen ha­ben. Alles, was – wie Bruder – vor dem Zerfall erfunden wurde oder bereits bekannt war, könnte einen solchen Namen haben. (Das muß es jedoch nicht, da eine Viel­zahl von UIG-Wörtern sicher untergangen ist. Uns sind die UIG-Wörter für »Auge« und »Augenbraue« bekannt, nicht aber für »Augenlid«, obwohl UIG-Sprecher sicher auch Augenlider hatten).
    Die vielleicht frühesten bedeutenden Erfindungen ohne UIG-Bezeichnungen sind die Streitwagen, die zwi­schen 2000 und 1500 v. Chr. weite Verbreitung erlang­ten, und das Eisen, dessen Gebrauch zwischen 1200 und 1000 v. Chr. zu großer Bedeutung aufstieg. Das Fehlen von UIG-Bezeichnungen für diese relativ späten Erfin­dungen verwundert nicht, da uns ja die Eigenständig­keit des Hethitischen bereits davon überzeugt hatte, daß die urindogermanische Sprache schon lange vor 2000 v . Chr. ihre Einheitlichkeit verloren hatte. Zu den relativ frühen Neuerungen, die UIG-Be­zeichnungen besitzen, gehören die Wörter für »Schaf« und »Ziege« (erstmals um 8000 v. Chr. domestiziert), für Rindvieh, mit sepa­raten Bezeichnungen für Kühe und Ochsen (um 6400 v. Chr. domestiziert), für das Pferd (um 4000 v. Chr. do­mestiziert) und für den Pflug, dessen Erfindung zeitlich in etwa mit der Domestikation des Pferdes zusammen­fiel. Die jüngste datierbare Erfindung mit einer UIG-Be­zeichnung ist das Rad (um 3300 v.Chr).
    Selbst ohne weitere Indizien würde die linguistische Paläontologie deshalb den Zerfall einer einheitlichen urindogermanischen Sprache vor 2000 v. Chr., aber nach 3300 v. Chr. vermuten. Dies stimmt gut mit dem aus der Extrapolation der Unterschiede zwischen dem Hethiti­schen, Griechischen und Sanskrit in die Vergangenheit gezogenen Schluß überein. Bei der Suche nach den Spu­ren der ersten Indogermanen sollten wir uns auf die ar­chäologischen Funde aus dem Zeitraum zwischen 2500 und 5000 v. Chr. konzentrieren, vielleicht besonders auf die Zeit etwas vor 3000 v.Chr.
    Nachdem die Frage nach dem »Wann« einigermaßen ge­klärt ist, wollen wir nun fragen, wo UIG gesprochen wur­de. Unter Linguisten herrscht seit jeher Uneinigkeit über die Heimat der urindogermanischen Sprache. Alle mög­lichen Gebiete sind schon genannt worden, vom Nord­pol bis Indien und von der Atlantik- bis zur Pazifikküste Eurasiens. Wie der Archäologe J. P. Mallory bemerkte, lautet die Frage deshalb nicht : »Wo lokalisiert die Wis­senschaft das indogermanische Ursprungsland ?«, son­dern: »Wo lokalisiert sie es momentan ?«
    Um die Schwere des Problems zu begreifen, emp­fiehlt sich zunächst ein Blick auf die Landkarte (Abb. 7,
    S. 446). Im Jahre 1492 waren die meisten überlebenden indogermanischen Sprachzweige praktisch auf Westeu­ropa beschränkt, und nur das Verbreitungsgebiet des in­doiranischen Zweigs reichte weiter nach Osten als bis zum Kaspischen Meer. Westeuropa wäre als UIG-Hei­mat also sicher die wirtschaftlichste Lösung, das heißt, man müßte in dem Fall die geringsten Bevölkerungsbe­wegungen annehmen.
    Doch leider wurde im Jahr 1900 eine »neue«, wenn­gleich lange ausgestorbene indogermanische Sprache an einem in dreifacher Hinsicht unwahrscheinlichen Ort entdeckt. Erstens

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