Der dritte Schimpanse
kam die Sprache (Tocharisch, wie sie heute genannt wird) in einer hinter einer Mauer verborgenen Geheimkammer in einem buddhistischen Höhlenkloster zum Vorschein. In der Kammer befand sich eine Bibliothek mit antiken Dokumenten in der fremden Sprache, verfaßt von buddhistischen Missionaren und Kaufleuten zwischen 600 und 800 n. Chr. Zweitens lag das Kloster in Ost-Turkestan, weiter östlich als die Gebiete aller übrigen Sprecher indogermanischer Sprachen und rund eineinhalbtausend Kilometer vom nächstgelegenen indogermanischen Sprachgebiet entfernt. Und drittens gehörte Tocharisch nicht zu den indoiranischen Sprachen, dem geographisch am ehesten benachbarten indogermanischen Sprachzweig, sondern möglicherweise zu Zweigen, die in Europa selbst, also Tausende von Kilometern weiter westlich, verbreitet waren. Das ist ungefähr so, als fänden wir plötzlich Beweise dafür, daß die Sprache der frühmittelalterlichen Bewohner Schottlands mit dem Chinesischen verwandt ist.
Natürlich gelangten die Tocharer nicht per Hubschrauber nach Ost-Turkestan, sondern zu Fuß oder mit Pferden, und wir müssen annehmen, daß es in Mittelasien einst noch viele andere indogermanische Sprachen gab, die nicht das Glück ereilte, der Nachwelt in Form geheimer Dokumente erhalten zu bleiben. Eine moderne Sprachenkarte Eurasiens (siehe Abb. 7) verdeutlicht, was dem Tocharischen und all den anderen untergegangenen indogermanischen Sprachen Mittelasiens widerfahren sein muß. Diese gesamte Region wird heute von Sprechern mongolischer oder von Turksprachen bewohnt, Nachfahren jener Horden, die das Gebiet mindestens seit der Zeit der Hunnen bis zur Ära Dschingis-Khans überrannten. Historiker streiten, ob die Heere Dschingis-Khans 2,4 oder nur 1,6 Millionen Menschen abschlachteten, als Harat in ihre Hände fiel, doch einig sind sie sich darüber, daß die Sprachenkarte Asiens durch solche Ereignisse verwandelt wurde. Hingegen wurden die meisten der indogermanischen Sprachen, von deren Verschwinden in Europa wir wissen – wie die keltischen Sprachen der Widersacher Cäsars in Gallien –, durch andere indogermanische Sprachen ersetzt. Der in Europa befindliche Schwerpunkt der indogermanischen Sprachen, wie er sich 1492 ausnahm, war in Wirklichkeit das künstliche Produkt eines sprachlichen Massensterbens in Asien in nicht allzu ferner Vergangenheit. Falls die Heimat des Urindogermanischen tatsächlich einen geographisch zentralen Platz in dem Gebiet einnahm, das um 600 n. Chr. zum Reich der indogermanischen Sprachen werden sollte und von Irland bis Ost-Turkestan reichte, dann läge diese Heimat in den Steppen Rußlands nördlich vom Kaukasus und nicht in Westeuropa.
So wie uns die Sprachen selbst Hinweise über den Zeitpunkt des Zerfalls der einheitlichen urindogermanischen Sprache gaben, enthalten sie auch Hinweise zur geographischen Lage ihrer Heimat. Einer besteht darin, daß das Indogermanische von allen Sprachfamilien die engsten Beziehungen zur finnischugrischen Familie aufweist, die Finnisch und andere im Waldgürtel Nordrußlands beheimatete Sprachen umfaßt (siehe Abb. 7). Es ist sicher richtig, daß die Ähnlichkeiten zwischen finnischugrischen und indogermanischen Sprachen weitaus schwächer sind als beispielsweise zwischen Deutsch und Englisch, was darauf beruht, daß die englische Sprache erst vor 1500 Jahren vom Nordwesten Deutschlands aus nach England kam. Die Ähnlichkeiten sind auch viel schwächer als zwischen dem germanischen und slawischen Sprachzweig der indogermanischen Sprachfamilie, die sich vermutlich vor mehreren tausend Jahren trennten. Vielmehr lassen die Gemeinsamkeiten auf eine viel ältere Verwandtschaft zwischen den Sprechern des Urindogermanischen und Urfinnisch-Ugrischen schlie-ßen. Und weil Finnisch-Ugrisch aus den Wäldern Nordrußlands stammt, liegt der Schluß nahe, daß die Heimat des Urindogermanischen in der russischen Steppe südlich der Wälder lag. Wäre es andererseits viel weiter im Süden entstanden (zum Beispiel in der Türkei), dürfte das Indogermanische die größte Ähnlichkeit mit den alten semitischen Sprachen des Nahen Ostens aufgewiesen haben.
Einen zweiten Hinweis auf die Heimat des Urindogermanischen liefern nichtindogermanische Vokabeln, die als sprachliche Relikte Eingang in eine ganze Reihe indogermanischer Sprachen fanden. Ich erwähnte bereits, daß solche Relikte besonders im Griechischen
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