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Der dritte Schimpanse

Der dritte Schimpanse

Titel: Der dritte Schimpanse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Rekonstruktion der Form des Wortstamms in der Grundsprache ermöglichen.

    Abb. 8 : In vielen modernen sowie in mehreren alten, nur aus überlieferten Schriften bekannten Sprachen sind die Bezeich­nungen für »Schaf« recht ähnlich. Es muß sich um Ableitungen von einer Urform handeln, die owis gelautet haben dürfte und im Urindogermanischen (UIG), der ungeschriebenen Grundsprache, verwendet wurde.
    Wie Abb. 8 zeigt, sind die Bezeichnungen für »Schaf« in vielen indogermanischen Sprachen, von Indien bis Ir­land, wirklich sehr ähnlich : avis, hawi, ovis, ois, oi usw. Das moderne englische Wort »sheep« hat offenbar eine andere Wurzel, doch der ursprüngliche Stamm ist in dem Wort »ewe« (Mutterschaf) erhalten geblieben.* 1 Un­ter Berücksichtigung der Lautverschiebungen in den einzelnen indogermanischen Sprachen läßt sich folgern, daß die ursprüngliche Form owis gelautet haben muß.
    Natürlich beweist ein gemeinsamer Wortstamm in mehreren Tochtersprachen nicht automatisch, daß es sich um ein gemeinsames Erbe der gleichen Grundspra­che handeln muß. Es könnten ja auch Wörter erst spä-ter von einer Tochtersprache in die andere gelangen. Ar­chäologen, die den Rekonstruktionsbemühungen der Linguisten skeptisch gegenüberstehen, verweisen in diesem Zusammenhang mit Vorliebe auf Wörter wie »Coca-Cola«, die zum Wortschatz vieler heutiger euro­päischer Sprachen gehören. Ihrer Ansicht nach würden Linguisten das Wort »Coca-Cola« absurderweise auf eine vor Tausenden von Jahren gesprochene Grundspra­che zurückführen. In Wirklichkeit ist »Coca-Cola« aber gerade ein Beispiel dafür, wie Linguisten Lehnwörter jüngeren Datums aussortieren: Das Wort ist offenkun­dig ausländischen Ursprungs (»Coca« stammt aus einer peruanischen Indianersprache, »Cola« aus Westafrika) und weist in den verschiedenen Sprachen nicht die glei­chen Lautverschiebungen auf wie bei den alten indoger­manischen Wortstämmen (auf Deutsch bleibt »Coca-Cola« schließlich »Coca-Cola« und wird nicht zu Kö-cherköhler ).

    Abb. 9 : Wie bei den Wörtern für »Schaf« ähneln sich die Be­zeichnungen für »laut furzen« in vielen geschriebenen indo­germanischen Sprachen. Dies läßt auf die Urform perd in der ungeschriebenen urindogermanischen Grundsprache schließen.
    Mit Hilfe solcher Methoden gelang die Rekonstruk­tion eines Großteils der Grammatik und von fast 2000 Wortstämmen der urindogermanischen Grundsprache, hier abgekürzt UIG. Das heißt allerdings nicht, daß alle Wörter der modernen indogermanischen Sprachen aus dem UIG stammen : Für die meisten trifft das nicht zu, da sehr viele neu erfunden oder entlehnt wurden (zum Beispiel »Schaf« statt des alten urindogermanischen owis) . Die überlieferten UIG-Stämme sind in der Regel Wörter für menschliche Universalien, für die es bereits vor Jahrtausenden Bezeichnungen gab : Wörter für Zah­len und Verwandtschaftsbeziehungen (wie in der Über­sicht auf S. 314), für Körperteile und -funktionen sowie für alltägliche Objekte oder Konzepte wie »Himmel«, »Nacht«, »Sommer« oder »kalt«. Zu den auf diese Weise rekonstruierten menschlichen Universalien zählen auch so vertraute Handlungen wie »einen fahren lassen«, und zwar mit zwei verschiedenen urindogermanischen Stämmen, je nachdem, ob es laut oder leise geschieht.
    Der Stamm für die laute Variante (UIG perd ) ergab die Grundlage einer Reihe ähnlicher Wörter in den mo­dernen indogermanischen Sprachen ( perdei, pardate usw.) – einschließlich »fart« im Englischen und »furzen« im Deutschen (siehe Abb. 9).
    Wir haben bisher erfahren, wie Linguisten darangin­gen, aus geschriebenen Sprachen Indizien für eine un­geschriebene Grundsprache (und Sprachdampfwal­ze) zu extrahieren. Die naheliegenden nächsten Fragen lauten : Wann wurde UIG gesprochen, wo wurde es ge­sprochen, und wodurch konnte es so viele andere Spra­chen überrollen? Beginnen wir mit dem »Wann«, einer weiteren auf den ersten Blick unmöglichen Frage. Es ist schon schlimm genug, die Wörter einer ungeschriebe­nen Sprache folgern zu müssen, doch wie um Himmels willen sollen wir auch noch bestimmen, wann sie ge­sprochen wurden?
    Wir können zunächst wenigstens die Möglichkeiten eingrenzen, indem wir die ältesten schriftlichen Beispiele indogermanischer Sprachen analysieren. Lange Zeit waren das iranische Texte aus der Zeit um 1000 bis 800 v. Chr. sowie Sanskritschriften, die wahrscheinlich um 1200 bis 1000

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