Der dritte Schimpanse
20 Jahre älter wurden als die ältesten Neandertaler, eine wichtige Rolle bei ihrem Erfolg gespielt haben. Wie ich in Kapitel 7 zeigen werde, erforderte ein längeres Lebensalter nicht nur verbesserte Überlebenskünste, sondern auch eine Reihe biologischer Veränderungen, zu denen möglicherweise auch die Evolution des weiblichen Klimakteriums zählt.
Ich habe den »großen Sprung« bisher so geschildert, als ob die vielen Fortschritte im Werkzeuggebrauch und in der Kunst vor 40 000 Jahren auf einen Schlag aufgetreten wären. In Wirklichkeit wurden die Erfindungen natürlich nicht alle zur gleichen Zeit gemacht. Speerschleudern gab es vor Harpunen oder Pfeil und Bogen ; Perlenketten und Anhänger sind älter als Höhlenmalereien. Ich habe auch bisher keine geographischen Unterschiede berücksichtigt. Von den Afrikanern, Ukrainern und Franzosen des späten Eiszeitalters stellten nur die Afrikaner Perlenketten aus Straußeneiern her, nur die Ukrainer bauten Häuser aus Mammutknochen, und nur die Franzosen malten Wollnashörner an Höhlenwände.
Diese zeitlichen und räumlichen Unterschiede stehen ganz im Gegensatz zur sich nie verändernden, monolithischen Kultur der Neandertaler. Sie stellen die bedeutendste Innovation im Zusammenhang mit unserem Aufstieg zum Menschentum dar : den Erwerb der Innovationsfähigkeit. Für uns ist heute eine Welt, in der ein Nigerianer im Jahre 1994 die gleichen Dinge besitzt wie ein Bewohner Lettlands und zugleich wie ein Römer im Jahre 50 v. Chr., gänzlich unvorstellbar, weil Innovation für uns etwas Alltägliches geworden ist. Für die Neandertaler war sie undenkbar.
Trotz spontaner Sympathie mit der Kunst der Cro-Magnon-Menschen fällt es uns jedoch wegen der Steinwerkzeuge und des Jäger- und Sammlerdaseins schwer, die Cro-Magnons nicht als primitiv anzusehen. Beim Gedanken an Steinwerkzeuge drängt sich die aus Comic-Heften vertraute Vorstellung keulenschwingender Höhlenmenschen auf, die unter Grunzlauten eine Frau in ihre Höhle zerren. Einen besseren Eindruck können wir uns aber machen, wenn wir überlegen, was künftige Archäologen wohl bei der Ausgrabung eines noch in den fünfziger Jahren bewohnten Dorfes in Neuguinea finden und was sie daraus folgern werden. Die Fundstücke dürften ein paar einfache Arten von Steinäxten sein. Praktisch alle anderen materiellen Besitztümer waren aus Holz, und von ihnen wäre deshalb nichts mehr übrig. Verschwunden wären die mehrstöckigen Häuser, die so schön gewebten Körbe, die Trommeln und Flö-ten, Auslegerboote und kunstvoll bemalten Skulpturen. Nichts würde auf die komplexe Sprache der Dorfbewohner, ihre Lieder, sozialen Beziehungen und ihre Kenntnisse über die Natur hindeuten.
Bis vor kurzem war die materielle Kultur der Bewohner Neuguineas aus geschichtlichen Gründen »primitiv« (d. h. steinzeitlich), doch die Menschen selbst sind voll modern. Söhne von Steinzeitvätern sind heute Flugkapitäne, arbeiten an Computern und verwalten einen modernen Staat. Könnten wir mit einer Zeitmaschine 40 000 Jahre in die Vergangenheit reisen, so würden wir Cro-Magnons als ebenso moderne Menschen erleben, die durchaus lernen könnten, Pilot eines Jets zu werden. Stein- und Knochenwerkzeuge fertigten sie aus dem einfachen Grund an, daß noch keine anderen Werkzeuge erfunden waren und sie den Umgang mit ihnen deshalb nicht erlernen konnten.
Früher dachte man, die Cro-Magnons seien in Europa aus den Neandertalern hervorgegangen. Inzwischen gilt dies als immer unwahrscheinlicher. Die letzten Neandertaler-Skelette aus der Zeit vor nicht ganz 40 000 Jahren trugen noch immer die vollständigen Merkmale dieses Menschentyps, während die ersten in Europa zur gleichen Zeit erscheinenden Cro-Magnons anatomisch bereits völlig modern waren. Da solche modernen Menschen in Afrika und im Nahen Osten bereits mehrere zehntausend Jahre früher vorkamen, erscheint es aus heutiger Sicht viel eher so, als sei Europa das Ziel einer Invasion von dort gewesen und nicht die Wiege des modernen Menschen.
Was mag wohl geschehen sein, als die Cro-Magnons bei ihrer Einwanderung auf die bereits ansässigen Neandertaler stießen ? Gewißheit besitzen wir nur über das Endergebnis : Innerhalb kurzer Zeit gab es keine Neandertaler mehr. Für mich läßt dies nur den Schluß zu, daß die Ankunft des Cro-Magnons in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Aussterben des Neandertalers stand. Viele
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