Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Schimpanse

Der dritte Schimpanse

Titel: Der dritte Schimpanse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
20 Jahre älter wur­den als die ältesten Neandertaler, eine wichtige Rolle bei ihrem Erfolg gespielt haben. Wie ich in Kapitel 7 zei­gen werde, erforderte ein längeres Lebensalter nicht nur verbesserte Überlebenskünste, sondern auch eine Reihe biologischer Veränderungen, zu denen möglicherweise auch die Evolution des weiblichen Klimakteriums zählt.
    Ich habe den »großen Sprung« bisher so geschildert, als ob die vielen Fortschritte im Werkzeuggebrauch und in der Kunst vor 40 000 Jahren auf einen Schlag aufge­treten wären. In Wirklichkeit wurden die Erfindungen natürlich nicht alle zur gleichen Zeit gemacht. Speer­schleudern gab es vor Harpunen oder Pfeil und Bogen ; Perlenketten und Anhänger sind älter als Höhlenmale­reien. Ich habe auch bisher keine geographischen Unter­schiede berücksichtigt. Von den Afrikanern, Ukrainern und Franzosen des späten Eiszeitalters stellten nur die Afrikaner Perlenketten aus Straußeneiern her, nur die Ukrainer bauten Häuser aus Mammutknochen, und nur die Franzosen malten Wollnashörner an Höhlenwände.
    Diese zeitlichen und räumlichen Unterschiede stehen ganz im Gegensatz zur sich nie verändernden, mono­lithischen Kultur der Neandertaler. Sie stellen die be­deutendste Innovation im Zusammenhang mit unserem Aufstieg zum Menschentum dar : den Erwerb der Inno­vationsfähigkeit. Für uns ist heute eine Welt, in der ein Nigerianer im Jahre 1994 die gleichen Dinge besitzt wie ein Bewohner Lettlands und zugleich wie ein Römer im Jahre 50 v. Chr., gänzlich unvorstellbar, weil Innovation für uns etwas Alltägliches geworden ist. Für die Nean­dertaler war sie undenkbar.
    Trotz spontaner Sympathie mit der Kunst der Cro-Magnon-Menschen fällt es uns jedoch wegen der Stein­werkzeuge und des Jäger- und Sammlerdaseins schwer, die Cro-Magnons nicht als primitiv anzusehen. Beim Gedanken an Steinwerkzeuge drängt sich die aus Co­mic-Heften vertraute Vorstellung keulenschwingender Höhlenmenschen auf, die unter Grunzlauten eine Frau in ihre Höhle zerren. Einen besseren Eindruck können wir uns aber machen, wenn wir überlegen, was künfti­ge Archäologen wohl bei der Ausgrabung eines noch in den fünfziger Jahren bewohnten Dorfes in Neuguinea finden und was sie daraus folgern werden. Die Fund­stücke dürften ein paar einfache Arten von Steinäxten sein. Praktisch alle anderen materiellen Besitztümer wa­ren aus Holz, und von ihnen wäre deshalb nichts mehr übrig. Verschwunden wären die mehrstöckigen Häuser, die so schön gewebten Körbe, die Trommeln und Flö-ten, Auslegerboote und kunstvoll bemalten Skulpturen. Nichts würde auf die komplexe Sprache der Dorfbewoh­ner, ihre Lieder, sozialen Beziehungen und ihre Kennt­nisse über die Natur hindeuten.
    Bis vor kurzem war die materielle Kultur der Bewoh­ner Neuguineas aus geschichtlichen Gründen »primi­tiv« (d. h. steinzeitlich), doch die Menschen selbst sind voll modern. Söhne von Steinzeitvätern sind heute Flug­kapitäne, arbeiten an Computern und verwalten einen modernen Staat. Könnten wir mit einer Zeitmaschine 40 000 Jahre in die Vergangenheit reisen, so würden wir Cro-Magnons als ebenso moderne Menschen erleben, die durchaus lernen könnten, Pilot eines Jets zu werden. Stein- und Knochenwerkzeuge fertigten sie aus dem ein­fachen Grund an, daß noch keine anderen Werkzeuge erfunden waren und sie den Umgang mit ihnen deshalb nicht erlernen konnten.
    Früher dachte man, die Cro-Magnons seien in Euro­pa aus den Neandertalern hervorgegangen. Inzwischen gilt dies als immer unwahrscheinlicher. Die letzten Ne­andertaler-Skelette aus der Zeit vor nicht ganz 40 000 Jahren trugen noch immer die vollständigen Merkmale dieses Menschentyps, während die ersten in Europa zur gleichen Zeit erscheinenden Cro-Magnons anatomisch bereits völlig modern waren. Da solche modernen Men­schen in Afrika und im Nahen Osten bereits mehrere zehntausend Jahre früher vorkamen, erscheint es aus heutiger Sicht viel eher so, als sei Europa das Ziel einer Invasion von dort gewesen und nicht die Wiege des mo­dernen Menschen.
    Was mag wohl geschehen sein, als die Cro-Magnons bei ihrer Einwanderung auf die bereits ansässigen Neandertaler stießen ? Gewißheit besitzen wir nur über das Endergebnis : Innerhalb kurzer Zeit gab es keine Nean­dertaler mehr. Für mich läßt dies nur den Schluß zu, daß die Ankunft des Cro-Magnons in einem ursächli­chen Zusammenhang mit dem Aussterben des Nean­dertalers stand. Viele

Weitere Kostenlose Bücher