Der dritte Schimpanse
Schneckentempo entwickelt. Jeglicher Wandel wurde vom langsamen Tempo genetischer Veränderungen bestimmt. Nach dem »großen Sprung« war es mit der Abhängigkeit kultureller von genetischen Veränderungen vorbei. Trotz des kaum noch wahrnehmbaren Wandels unserer Anatomie übertrifft die kulturelle Evolution der letzten 40 000 Jahre bei weitem alles, was sich in den Jahrmillionen davor tat. Wäre ein Außerirdischer zur Zeit der Neandertaler auf die Erde gekommen, dürften ihm die Menschen kaum als eine besonders herausragende Art erschienen sein. Allenfalls hätte er sie zusammen mit Bibern, Laubenvögeln und Wanderameisen als Tierart mit sonderbarem Verhalten eingestuft. Hätte der Besucher aus dem All wohl die Veränderungen vorhersehen können, die uns bald zur ersten Spezies in der Geschichte des Lebens auf der Erde machen sollten, die in der Lage ist, alles Leben zu vernichten ?
TEIL II
Das Tier mit dem sonderbaren Lebenszyklus
In Kapitel 2 wurde unsere Evolutionsgeschichte von den Anfängen im Tierreich bis zum Auftreten von Menschen mit völlig moderner Anatomie und modernem Verhalten geschildert. Doch das bisher Gesagte erlaubt es uns noch nicht, nun unmittelbar zu so typisch menschlichen kulturellen Errungenschaften wie der Sprache und Kunst überzugehen. Und zwar deshalb nicht, weil in Kapitel 2 vor allem von Knochen und Werkzeugen die Rede war. Es stimmt, daß größere Gehirne und aufrechter Gang Voraussetzungen für die Entwicklung von Sprache und Kunst darstellten, aber damit war es noch nicht getan. Ein menschlicher Knochenbau allein garantiert noch kein menschliches Benehmen. Vielmehr erforderte unser Aufstieg auch drastische Veränderungen im Lebenszyklus, und von ihnen handelt Teil II.
Für jede Spezies läßt sich ein sogenannter »Lebenszyklus« beschreiben. Er umfaßt Merkmale wie : die Zahl der Jungen pro Wurf bzw. Geburt; die elterliche Fürsorge, die Mutter oder Vater dem Nachwuchs angedeihen lassen (oder auch nicht); die sozialen Beziehungen zwischen erwachsenen Individuen ; die Art und Weise, in der Männchen und Weibchen bei der Paarung den Partner wählen; die Häufigkeit sexueller Beziehungen ; und die Lebenserwartung.
Für uns sind die Ausprägungen dieser Merkmale beim Menschen völlig selbstverständlich und normal. Doch aus tierischer Sicht ist unser Lebenszyklus in Wirklichkeit höchst sonderbar. Bei jedem der eben aufgeführten Merkmale gibt es große Unterschiede zwischen den Tierarten, und in fast jeder Hinsicht ist der Mensch ein Extremfall. Ich will nur ein paar deutliche Beispiele nennen : Die meisten Tiere bringen pro Geburt weit mehr als nur ein Baby zur Welt; männliche Tiere kümmern sich in den seltensten Fällen um die von ihnen gezeugten Jungen ; und die Lebensdauer beträgt bei den meisten Tierarten nur einen Bruchteil der unseren.
Manche dieser außergewöhnlichen Merkmale haben wir mit den Menschenaffen gemein, was vermuten läßt, daß sie bereits bei unseren affenähnlichen Vorfahren so ausgeprägt waren. Zum Beispiel bringen auch Menschenaffen gewöhnlich nur ein Baby zur Zeit in mehrjährigem Abstand zur Welt und haben eine Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten. Beides trifft für andere uns wohlvertraute (jedoch weniger eng mit uns verwandte) Tierarten wie Katzen, Hunde, Singvögel und Goldfische nicht zu.
In anderer Hinsicht unterscheiden wir uns sogar von den Menschenaffen erheblich. Dafür einige Beispiele: Menschenbabys werden auch nach der Entwöhnung von der Muttermilch noch vollständig von den Eltern mit Nahrung versorgt, während abgestillte Menschenaffen gleich selbst ihre Nahrung sammeln. Die meisten menschlichen Väter und Mütter, bei den Schimpansen aber nur die Mütter, beteiligen sich aktiv an der Aufzucht des eigenen Nachwuchses. Ähnlich wie die Seemö-wen, aber im Unterschied zu Menschenaffen oder den meisten anderen Säugetieren, leben wir in großer Zahl in »offiziell« monogamen Paaren zusammen, von denen sich manche auch auf außerehelichen Sex einlassen. All diese Merkmale sind ebenso wichtig für das Überleben und die Erziehung des menschlichen Nachwuchses wie große Schädel und Gehirne. Der Grund ist, daß es unsere ausgeklügelten, auf dem Gebrauch von Werkzeugen basierenden Formen der Nahrungsbeschaffung Kleinkindern nicht gestatten, sich selbst zu ernähren. Unser Nachwuchs muß über lange Zeit mit Nahrung versorgt, erzogen und behütet werden – eine sehr viel
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