Der dritte Zustand
müßten, tun wir so, als wüßten wir von nichts. Oder als seien Mitleid und Erbarmen nur eine Form der Demütigung des anderen, altmodische Gefühlsduselei. Oder denken, so ist das eben, was kann man schon machen, und wieso gerade ich. Das hat Pascal offenbar gemeint, als er vom Tod der Seele sprach und das Elend des Menschen dem eines entthronten Königs gleichsetzte. Feige, infam, häßlich erschienen Fima seine Anstrengungen, sich ja nicht vorzustellen, was jenseits der Wand vorging. Seine Gedanken gewissermaßen von Tamars Vaters Tod auf den Klatsch um Altermans Privatleben zu lenken. Jeder von uns hat doch die Pflicht, Leid wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Wenn er Regierungschef wäre, würde er jeden einzelnen Minister verpflichten, eine Woche mit einer Reserveeinheit in Gaza oder Hebron zu verbringen. Sich einige Zeit zwischen den Zäunen eines Internierungslagers im Negev aufzuhalten. Mindestens zwei Tage auf der psychogeriatrischen Station eines drittklassigen Krankenhauses zu sitzen. Eine Winternacht von Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung in Schlamm und Regen am Grenzzaun zum Libanon auf der Lauer zu liegen. Oder mit Etan und Wahrhaftig in dieser Ausschabungshölle zu stehen, in die von oben herab wieder die Klavier- und Celloklänge aus dem zweiten Stock herabrieselten.
Gleich darauf verursachten diese Gedanken ihm Brechreiz, weil sie ihm bei genauerem Nachdenken wie slawischer Kitsch aus dem vorigen Jahrhundert in Reinkultur vorkamen. Schon der Ausdruck »Ausschabungshölle« erschien ihm ungerecht – zuweilen wurde an diesem Ort doch fast Leben geschaffen. Fima erinnerte sich an eine nicht gerade junge Patientin, Sara Matalon, an der die größten Fachärzte verzweifelt waren, so daß sie ihr rieten, eben ein Kind anzunehmen, und nur Gad Etan hatte nicht aufgegeben, vier Jahre lang nicht von ihr abgelassen, bis er ihren Schoß geöffnet hatte. Die ganze Praxis war zur Beschneidungsfeier ihres Sohnes eingeladen worden. Als der Vater plötzlich verkündete, das Neugeborene solle Gad heißen, merkte Fima, daß Dr. Etan anfing, gewaltsam an seinem Uhrarmband zu zerren, worauf sich im selben Moment auch Fimas Augen mit Tränen füllten, so daß sie sich mit Wahrhaftig begnügen mußten, der sein Patenamt begeistert versah.
Fima schnellte hoch, um Tamar beizuspringen, die eine verstörte, kalkweiße, etwa siebzehnjährige Patientin führte, die so zerbrechlich wirkte, als bestehe sie aus Zündhölzern, und auf weichen Beinen zum Aufwachraum wankte. Als wolle er sämtliche Sünden des Männergeschlechts büßen, lief Fima hierhin und dorthin, um eilig eine Wolldecke, kalten Sprudel, einen Zitronenschnitz, Papiertaschentücher und Aspirin zu holen. Später bestellte er ihr ein Taxi.
Um halb fünf war Kaffeepause. Dr. Wahrhaftig kam, lehnte sich an die Theke und blies Fima Medikamenten- und Desinfektionsmittelgeruch ins Gesicht. Sein riesiger Brustkasten, aufgeblasen wie der eines russischen Generalgouverneurs aus der Zarenzeit, und seine breiten, runden Lenden verliehen seiner massigen Gestalt die Form eines Kontrabasses.
Aufleisen, elastischen Samtpfötchen, als liefe er über heißes Blech, kam Dr. Etan angeschossen, gleichgültig träge mit geschlossenem Mund ein Kaugummi kauend, die schmalen Lippen zusammengepreßt.
»Das war ein sehr merkwürdiger Schnitt. Gut, daß du ihn eng vernäht hast«, sagte Wahrhaftig.
»Wir haben sie da rausgerettet. War recht nett«, erwiderte Gad Etan.
»Mit der Transfusion hast du entschieden recht gehabt«, meinte Wahrhaftig.
»Big deal« , gab Etan zurück. »Das war von Anfang an sonnenklar.«
»Gott hat dir kluge Finger gegeben, Gad«, sagte Wahrhaftig.
Fima mischte sich schüchtern ein: »Trinkt. Der Kaffee wird kalt.«
»Exzellenz von Nissan!« brüllte Wahrhaftig los. »Wohin waren Euer Hochwohlgeboren all diese Tage verschwunden? Sicher ist es Ihnen gelungen, einen neuen Faustus für uns zu verfassen! Oder einen Kohlhaas! Und wir haben schon fast vergessen, wie Euer strahlendes Antlitz aussieht!« Daran anknüpfend erzählte er einen »alten Witz« über drei Nichtstuer. Mußte aber, noch bevor er beim dritten angekommen war, in heiseres Gelächter ausbrechen.
Gad Etan, gedankenverloren, sagte plötzlich sanft: »Trotzdem hätten wir’s nicht hier unter örtlicher Betäubung machen sollen. Das hätte stationär geschehen müssen. Und bei Vollnarkose. Beinah wär’ uns das schiefgegangen. Man muß das bedenken, Alfred.«
Wahrhaftig erwiderte mit
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