Der dritte Zustand
Gespräch in höflich gemäßigte Bahnen zurückzulenken, »in einem geordneten Staat würde man euch nicht erlauben, über ein solch tragisches Thema makabre Reden zu halten. Es gibt Dinge, über die man nicht einmal in einer privaten Unterhaltung im geschlossenen Raum spaßen darf. Aber unser Fima ist paradoxiensüchtig, und du, Gad, freust dich bloß über jede Gelegenheit, die Regierung, Auschwitz, die Operation Entebbe, die sechs Millionen zu bespötteln – Hauptsache, es ärgert die anderen. Alles ist tot bei dir. Du würdest am liebsten alle aufhängen. Der Henker aus der Alfassi-Straße. Das kommt daher, daß ihr alle beide den Staat haßt, statt jeden Morgen Gott auf den Knien für all das zu danken, was wir hier haben – trotz Asiatentum und Bolschewismus. Ihr seht vor Löchern den Käsenicht.« Und urplötzlich mit gekünstelter Wut, ganz aufgeblasen, als sei er wild entschlossen, den furchtbaren Tyrannen zu spielen, lief der alte Arzt rot an, bis sein Säufergesicht bebte und die Adern darin zu platzen drohten, und brüllte höflich: »Genug! Schluß mit dem Schwatzen. Alles Marsch an die Arbeit! Bei mir hier ist nicht die Knesset!«
Fast ohne die Lippen zu öffnen, quetschte Gad Etan unter dem blonden Schnurrbart hervor: »Aber genau die Knesset. Voll mit Senilen. Alfred, komm zu mir rüber. Und ich brauche einen Moment auch die heiße Schönheitskönigin, mit Frau Bergmanns Kartei.«
»Was hab’ ich dir denn getan«, flüsterte Tamar, deren Augen sich mit Tränen füllten, »warum quälst du einen?« Und in einem Aufflackern von wirrem Mut fügte sie hinzu: »Du kriegst von mir noch mal ’ne Ohrfeige.«
»Großartig«, grinste Etan, »ganz zu deinen Diensten. Ich halte dir sogar die andere Wange hin, falls dir das ein wenig hormonale Beruhigung verschaffen kann. Danach wird unser heiliger Augustinus dich und mich trösten – mit den übrigen Trauernden Zions und Jerusalems.« Damit vollführte er eine exakte Kreisbewegung, ging mit elastischen Schritten davon, wobei er seinen weißen Pullover glattzog, und hinterließ Schweigen.
Die beiden Ärzte verschwanden in Dr. Etans Zimmer. Fima kramte in seinen Taschen und förderte ein zerknittertes, nicht besonders sauberes Taschentuch zu Tage, das er Tamar für ihre überquellenden Augen reichen wollte. Aus den Falten fiel jedoch ein winziger Gegenstand zu Boden, den Fima nicht bemerkte. Tamar bückte sich danach und gab Fima, unter Tränen lächelnd, Annettes Glühwürmchen zurück. Dann wischte sie sich sofort mit dem Ärmel die Augen, das grüne wie das braune, zog das gewünschte Blatt heraus und rannte den Ärzten nach. Schon an der Tür, wandte sie Fima ihr gequältes, liebes Gesicht zu und sagte in jäher Verzweiflung, als schwöre sie bei allem, was ihr heilig war: »Einmal werde ich blitzschnell eine Schere packen und ihn umbringen. Und dann mich.«
Fima glaubte ihr nicht, nahm aber doch lieber den Brieföffner vom Tisch und legte ihn in die Schublade. Das Taschentuch und den Ohrring schob er vorsichtig in die Tasche zurück. Danach riß er ein Stück Papier ab und legte es vor sich hin, da er auf den Gedanken gekommen war, seine Idee mit dem Herzen des Christentums niederzuschreiben – vielleicht würde ein Artikel für die Wochenendzeitung daraus werden.
Aber er war zerstreut. Kaum drei Stunden hatte er letzte Nacht geschlafen, und am Morgen hatten ihn seine unermüdlichen Liebhaberinnen erschöpft.Was fanden sie eigentlich an ihm? Ein hilfloses Kind, das bei ihnen mütterliche Triebe des Wickelns und an ihrem Schoße Säugens weckte? Einen Bruder, der ihnen die Tränen trocknete? Einen erloschenen Dichter, dem sie gern Muse sein wollten? Und was zog Frauen zu einem grausamen Haudegen wie Gad? Oder zu einem geschwätzigen Geck wie seinem Vater? Fima grinste verwundert. Womöglich irrte sich Annette doch, und es gab trotz allem eine mysteriöse Seite? Das Rätsel weiblicher Vorlieben? Oder sie irrte keineswegs, sondern hütete nur sorgfältig das Geheimnis vor dem Feind? Leugnete listig bereits seine bloße Existenz? Gewiß hat sie mich heute morgen nicht begehrt, sondern bloß bemitleidet; deshalb hat sie beschlossen, sich hinzugeben, und hat’s getan. Und ich – eine halbe Stunde später habe ich Nina nicht begehrt, sondern bemitleidet, und da wollte ich mich hingeben, aber die Natur hat mir versagt, was sie den Frauen mühelos gestattet.
»Das ist doch ungerecht«, murmelte er. Und dann, in einer Art Schadenfreude über sich selbst:
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