Der dritte Zustand
schlug die Stirn an die Scheibe und erschauerte von der Kälte. Bialik 23 zum Beispiel behauptet, die Sterne hätten ihn betrogen. Hätten versprochen und nicht gehalten. Seien gewissermaßen eine Verabredung eingegangen und nicht erschienen. Dabei ist es in Wahrheit doch umgekehrt: Nicht die Sterne haben uns betrogen, sondern wir sie. Wir haben versprochen und nicht gehalten. Sie haben uns gerufen, und wir haben vergessen zu kommen. Sie haben gesprochen – und wir haben uns geweigert hinzuhören. Kraniche schwebten – und weg sind sie.
Sagt ein Wort. Gebt ein kleines Wegzeichen, einen Fingerzeig, ein Fadenende, ein Zwinkern, und auf der Stelle mache ich mich auf und gehe. Ohne auch nur vorher das Hemd zu wechseln. Steh’ auf, zieh’ los. Jetzt. Oder ich werfe mich euch zu Füßen. Liege da mit entschleierten Augen.
Draußen legte der Wind zu. Heftige Wassergüsse klatschten vor seiner Stirn an die Scheibe. Das Wolkenloch über den Bethlehemer Bergen, durch das vorher die Sterne geglitzert hatten, war jetzt ebenfalls zugezogen. Plötzlich meinte er von fern leises Weinen zu hören. Wie von einem verlassenen Baby in einer nassen Decke am Hang des Wadis. Als müsse er in diesem Augenblick losrennen und seiner Mutter helfen, den verlorenen Säugling wiederzufinden. Dabei sagte er sich, es sei gewiß nur dasQuietschen eines Fensterladens. Oder ein Nachbarskind. Oder eine frierende Katze im Hof. Sosehr er seine Augen auch anstrengte, er sah nur Dunkelheit. Keinerlei Zeichen erschien, weder auf den Bergen noch im schwachen Lichterblinken der am Gegenhang verstreuten Hütten noch am schwarzen Himmel. Das ist doch unrecht, böse geradezu, mich zu rufen, ich solle kommen, ohne mir den kleinsten Hinweis zu geben, wohin. Wo das Treffen stattfinden soll. Ob es ein Treffen gibt oder nicht. Ob man mich ruft oder aber einen der Nachbarn. Ob nun etwas in dieser Dunkelheit ist oder nicht.
Und tatsächlich spürte Fima in diesem Augenblick in voller Schwere die über Jerusalem lagernde Dunkelheit. Dunkelheit über Minaretten und Kuppeln, Dunkelheit über Mauern und Türmen, Dunkelheit über den steinernen Höfen und den alten Pinienhainen, über Klöstern und Olivenbäumen, über Moscheen, Nischen und Höhlen, über den Gräbern der Könige wie der wahren und falschen Propheten, Dunkelheit in den gewundenen Gassen, Dunkelheit über den Regierungsgebäuden, über Ruinen und Toren, Geröllhalden und Dornenfeldern, Dunkelheit über Ränken, Begierden und Wahnbildern, Dunkelheit über Bergen und Wüste.
Im Südwesten, über den Bergspitzen rings um das Dorf En Karem, vollzog sich eine langsame Wolkenbewegung. Als ließe eine unsichtbare Hand einen Vorhang herab. So war die Mutter in seiner Kindheit an Winterabenden von Fenster zu Fenster gegangen und hatte alle Vorhänge zugezogen. Eines Nachts, er mußte drei oder vier Jahre alt gewesen sein, hatte sie vergessen, die Vorhänge in seinem Zimmer zu schließen. Er wachte auf und sah eine verschwommene Gestalt ihn reglos von draußen anblicken. Eine lange, schlanke Gestalt, von einem blassen Lichtkreis umgeben. Dann verlosch sie. Und tauchte erneut, wie in mondbefallenen Nebeln, vor dem zweiten Fenster auf. Und verlosch wieder. Er wußte noch, daß er entsetzt im Bett hochgefahren war und zu weinen begonnen hatte. Daß seine Mutter hereingekommen war, sich im Nachthemd, das einen feinen Parfümduft verströmte, über ihn gebeugt hatte und daß auch sie weiß und lang und wie mondbefallen wirkte. Sie hatte ihn in die Arme genommen und ihm versichert, daß draußen nichts war, daß die Gestalt nur ein Traumgebilde gewesen sei. Danach hatte sie die beiden Vorhänge fest zugezogen, ihn zugedeckt und auf die Stirn geküßt. Obwohl er zum Schluß zu weinen aufgehört und sich ganz unter die Decke vergraben hatte und obwohl sie an seinem Bett sitzengeblieben war, bis er wieder eingeschlafen war, wußteFima auch heute noch mit letzter, absoluter Sicherheit, daß die Gestalt kein Traumgebilde gewesen war. Daß seine Mutter das gewußt und ihn belogen hatte. Selbst jetzt nach fünfzig Jahren war er weiterhin überzeugt, daß dort wirklich ein Fremder vorbeigekommen war. Nicht etwa im Traum, sondern draußen hinter der Scheibe. Und daß auch seine Mutter es gesehen hatte. Und er wußte, daß jene Lüge die schlimmste aller Lügen war, die man ihm im Lauf seines Lebens vorgesetzt hatte. Diese Lüge hatte seinen kleinen Bruder weggerafft und das Schicksal seiner Mutter besiegelt, in der Blüte
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