Der dritte Zustand
ihrer Jahre dahinzugehen, und auch sein eigenes Los, die ganzen Jahre über hier und doch nicht hier zu sein. Vergeblich etwas Verlorenes zu suchen, das nicht ihm abhanden gekommen war und von dem er nicht die leiseste Ahnung hatte, worum es sich handelte, wie es aussah, wo er es suchen sollte und wie.
Doch auch wenn es sich eines Tages einfinden sollte – woran würde er erkennen, daß er es gefunden hatte?
Womöglich hatte er es schon gefunden, aber seinen Händen entgleiten lassen, war achtlos weitergegangen und suchte nun immer noch wie ein Blinder?
Es schwebten und kreisten Kraniche, und nun sind sie weg.
Der Wind ließ von den Scheiben ab. Eisige Stille breitete sich aus. Um Viertel vor elf änderte Fima seinen Plan, zog sich dick an, ging auf die leere Straße hinunter – die Kälte war stechend scharf – und steuerte auf den öffentlichen Fernsprecher im Ladenzentrum im oberen Teil des Viertels zu. Aber als er den Hörer abnahm, antwortete auch dieses Telefon nur mit Totenstille. Womöglich war in der ganzen Gegend eine Störung eingetreten? Hatten Rowdys den Apparat kaputtgemacht? Oder war ganz Jerusalem wieder einmal von sich selbst und der gesamten Welt abgeschnitten? Also verzichtete er, legte behutsam den Hörer wieder auf, zuckte die Achseln und sagte, alle Achtung, mein Lieber, weil ihm einfiel, daß er sowieso keine Telefonmünze in der Tasche hatte.
Morgen würde er früh aufstehen und seinen Geliebten alles erklären.
Oder er würde sich aufmachen und hier wegfahren.
Das Wispern der nassen Wipfel, die beißende Kälte, die Leere der Gassen – all das gefiel Fima. So schlenderte er weiter in Richtung Abhang und Felder. Seine Mutter hatte die eigenartige Angewohnheit gehabt, auf jede Speise zu pusten, auch wenn sie längst abgekühlt war, ja sogar wenn es sich um etwas Kaltes wie Salat oder Kompott handelte. Wenn sie pustete, rundetensich ihre Lippen wie zum Kuß. Das Herz krampfte sich zusammen, weil er in diesem Augenblick, fünfundvierzig Jahre nach ihrem Tod, ihr einen Kuß erwidern wollte. Die Welt hätte er für sie umkrempeln mögen, um die blaue Babymütze mit dem Wollbommel zu finden und sie ihr wiederzugeben.
Als Fima am Ende der Straße, das gleichzeitig das Ende des Viertels und der Stadt bildete, angelangt war, bemerkte er ein durchsichtiges Wimmeln, das lautlos den ganzen Weltraum erfüllte. Als kämen von allen Seiten vieltausend seidig-sanfte Schritte angewuselt. Als berührten ihn Finger, die keine waren, im Gesicht. Als das Staunen abflaute, vermochte er feine Schneeflöckchen zu erkennen. Denn ganz leichter Schnee begann auf Jerusalem herabzurieseln. Allerdings schmolz er augenblicklich, sobald er etwas berührte. Es stand nicht in seiner Kraft, die graue Stadt weiß zu machen.
Fima kehrte heim und stöberte in dem Papierkorb unterm Schreibtisch nach der Telefonrechnung, die er gestern oder vorgestern zerknüllt und weggeworfen hatte. Die Rechnung fand er nicht, aber dafür zog er eine zerknitterte Seite des Ha’arez aus dem Korb, strich die Falten glatt und nahm sie mit ins Bett. Wo er nun über die neuen falschen Messiasse las, bis ihm die Augen zufielen und er mit der Zeitung über den Augen einschlief. Um zwei Uhr nachts hörte der leichte Schneefall auf. Jerusalem stand frostig und leer im Dunkeln, als sei das Unheil schon geschehen und alle seine Einwohner seien erneut in die Verbannung gezogen.
26.
Karla
Im Traum kam Gad Etan in einem Militärjeep mit auf der Motorhaube montiertem Maschinengewehr, um ihn zu einem Treffen mit dem Staatspräsidenten abzuholen. Das Präsidialamt befand sich in einer kleinen Kellersynagoge an einer Ecke des Russischen Areals hinter dem Polizeigebäude. Am Schreibtisch saß ein arroganter britischer Offizier mit schrägem Ledergurt über der schwarzen Uniform. Er riet Fima, aus freien Stücken das Geständnis für den Mord an dem Hund zu unterschreiben, der sich im Traum in eine Frau verwandelt hatte, deren Leiche – in ein mit schwarzen Blutflecken besudeltes Laken gehüllt – zu Füßen des Thoraschreinslag. Fima bat, das Gesicht der Toten sehen zu dürfen. Der Ermittlungsbeamte erwiderte grinsend: Wozu, wär’ doch schade, sie zu wecken, Karla eben wieder. Die ihr Leben für dich riskiert, dich auf die arische Seite rübergebracht, dich jedesmal gerettet hat – aber du hast sie ausgeliefert. Als Fima zu fragen wagte, welche Strafe ihn zur Sühne erwarte, sagte der Verteidigungsminister: Schau, was du für ein Golem bist. Die
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