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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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die Fußstapfen seines Vaters zu treten? Jetzt, als der abgewetzte, schlaffe Teddybär, der er war, plötzlich wieder wie ein Geißbock loszuspringen? Da wollen wir dich aber vorher erst mal stotterfrei pinkeln sehen.
    Statt herumzualbern, setzt man sich jetzt besser an den Schreibtisch, knipst die Lampe an und verfaßt eine gepfefferte Antwort auf den Vortrag von Günter Grass. Oder einen Brief an Jizchak Rabin. Oder den Artikel über das Herz des Christentums. Und man könnte sich auch einmal ungestört die Fernsehnachrichten um neun angucken. Mitten in einem dummen Melodrama vorm Fernseher einpennen. Oder noch besser, sich ins Bett kuscheln und das bei Ted aus dem Regal geklaute Buch lesen – das Leben der Walfänger in Alaska entschlüsseln, sich den Überfall wilder Nomadenvorstellen, ein bißchen über die sonderbaren Sexualgewohnheiten der Eskimostämme schmunzeln. Der Brauch, im Rahmen von Einführungsriten den pubertären Jungen eine reife Witwe zur Verfügung zu stellen, verursachte ihm plötzlich süßes Prickeln in den Lenden. Und morgen vormittag würde er seinen Geliebten alles erzählen, die es ihm sicher gern verziehen: Schließlich war hier doch mehr oder weniger höhere Gewalt am Werk gewesen.
    Neben dem Gefühl der Erleichterung und dem Signal in den Lenden regte sich auch sein Appetit. Den ganzen Abend hatte er nichts zu sich genommen. Deshalb ging er in die Küche und verschlang im Stehen fünf dicke Scheiben Marmeladebrot, saugte zwei Tomaten an und aß sie dann auf, ohne sie erst groß in Scheiben zu schneiden, verschlang einen Becher Joghurt, schlürfte zwei Tassen Tee mit Honig und nahm zum Abschluß eine Tablette gegen Sodbrennen. Um seine zaudernde Blase anzutreiben, drückte er mitten im Pinkeln die Spülung. Und da er den Wettlauf mit dem gurgelnden Wasser verlor, mußte er warten, bis der Behälter sich gütigst wieder gefüllt hatte. Aber dazu hatte er keine Lust. Lieber ging er durch die Wohnung, löschte in allen Zimmern die Lampen, stellte sich ans Fenster, um zu prüfen, was es auf den freien Flächen, die sich von hier bis Bethlehem erstreckten, Neues gab – vielleicht sah man ja schon irgendein Zeichen von fernem Goldlicht –, und freute sich am Beben der Scheiben, gegen die ein scharfer, schwarzer Wind von außen schlug.
    Hier und da auf den dunklen Hängen blinkte ein blasser Schein: verstreute arabische Steinhütten zwischen Obstbäumen und Felsland. Die Schemen der Berge trieben ihr Spiel mit ihm. Als tauschten sie doch wahrlich geheimnisvolle, überirdische Liebkosungen aus. Einst sind in Jerusalem Könige und Propheten, Heilande, Weltverbesserer, Stimmen hörende Mondwandler, Fanatiker, Asketen und Träumer umhergestreift. Und irgendwann in der Zukunft, in hundert oder mehr Jahren, werden hier an unserer Stelle neue, von uns völlig verschiedene Menschen leben. Kluge, zurückhaltende Leute. All unsere Leiden werden ihnen gewiß merkwürdig, zweifelhaft, ein wenig peinlich erscheinen. Vorerst, einstweilen zwischen diesen und jenen, hat man uns nach Jerusalem gesetzt. Die Stadt unserer Aufsicht übergeben. Und wir füllen sie mit Gewalt, Dummheit und Unrecht. Fügen einander Demütigungen, Kränkungen, Leiden zu – nicht aus Bosheit, sondern nur vor lauter Trägheit und Angst. Wollen das Gute und bewirken das Übel. Mehren das Wissen – mehren den Schmerz.
    »Und du verurteil mich mal nicht«, wandte Fima sich laut murrend an Joeser, »sei bloß ruhig. Was weiß so ein Lackaffe wie du schon. Wer hat überhaupt mit dir geredet.«
    Große, gestochen scharfe Sterne flimmerten vor den müden Augen. Fima kannte ihre Namen nicht, und es war ihm auch egal, welcher von ihnen Mars, Jupiter oder Saturn war. Aber er hätte zu gern enträtselt, woher dieses unbestimmte Gefühl stammte, daß es nicht das erste Mal war. Daß er schon einmal, in uralten Zeiten, dagewesen war. Daß er diesen Sternenflimmer schon einmal in einer einsamen, kalten Winternacht gesehen hatte. Nicht vom Fenster dieses Wohnblocks, sondern – vielleicht – durch den Türrahmen einer der niedrigen Steinhütten zwischen den dunklen Felsflächen dort drüben. Und schon damals hatte er sich gefragt, was möchten die Sterne am Himmel von dir, und was will der Schatten der Berge dir im Dunkeln sagen. Nur war die Antwort damals einfach gewesen. Aber vergessen. Ausgelöscht. Obwohl Fima einen Augenblick den Eindruck hatte, jene Antwort flattere an der Gedächtnisschwelle – streck die Finger aus und berühr sie. Er

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