Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
nur eine ferne Explosion. Vielleicht haben die Messiastreuen mittels Dynamit den ganzen Tempelberg in die Luft gejagt. Und nun erstreckt sich an seiner Stelle nur noch das Jammertal.«
    »Wie bitte?« fragte die Nachbarin, indem sie Fima verwundert oder leicht besorgt musterte.
    Worauf Herr Pisanti, ein Röntgentechniker, hinter ihrem Rücken in einem Ton, in dem Fima einen Hauch von Lüge witterte, entgegnete: »Bei uns ist alles hundert Prozent in Ordnung, Herr Nissan. Wie Sie geklingelt haben, hab’ ich mir gedacht, vielleicht ist bei Ihnen irgendwas schiefgelaufen? Nein? Brauchen Sie was? Ist der Kaffee wieder alle? Oder die Sicherung durchgebrannt? Soll ich kommen, sie wechseln?«
    »Danke«, sagte Fima, »das ist nett von Ihnen. Danke. Ich habe genug Kaffee, und der Strom ist auch in Ordnung. Nur das Telefon ist kaputt, aber das ist ganz angenehm – endlich ein wenig Ruhe. Nochmals Verzeihung, daß ich Sie so früh morgens gestört habe. Ich hab’ einfach gedacht, vielleicht ... Egal. Danke und Entschuldigung.«
    »Kein Problem«, sagte Herr Pisanti großzügig, »wir stehen sowieso immer um Viertel nach sechs auf. Wenn Sie zufällig mal schnell telefonieren wollen, bitte schön, können Sie bei uns. Kostenfrei. Oder soll ich mir bei Ihnen unten mal die Kontakte anschaun? Vielleicht hat sich was gelöst?«
    »Ich dachte«, sagte Fima, wobei er sich über seine eigenen Worte wunderte, »ich hab’ gedacht, ich rufe mal eine Freundin an, die vielleicht seit gestern abend auf mich wartet. Eigentlich zwei Freundinnen. Aber jetzt scheint’s mir gar nicht mal schlecht, sie warten zu lassen. Sollen sie warten. Es brennt nicht. Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«
    Als er sich gerade davonmachen wollte, sagte Frau Pisanti zögernd: »Kann sein, daß da draußen was vom Wind runtergefallen ist. Eine Waschschüssel oder so was. Aber bei uns ist alles in Ordnung.«
    Damit war Fima überzeugt, daß man ihn wieder einmal belog. Und verzieh die Lüge, weil er eigentlich kaum von den Nachbarn erwarten konnte, daß sie ihm von dem Streit berichteten, der sicher zwischen ihnen ausgebrochen war, und weil auch er bezüglich seiner Absicht, seine Freundinnen anzurufen, nicht die Wahrheit erzählt hatte.
    Nach Hause zurückgekehrt, sagte er: »Was bist du doch für ein Idiot.«
    Verzieh aber sofort auch sich selber, weil er es gut gemeint hatte.
    Rund zehn Minuten turnte er vor dem Spiegel, ehe er sich rasierte, anzog, ein wenig kämmte, in dem neuen Kessel Wasser kochte, das Bett machte – was ihm diesmal alles reibungslos gelang. Er hat sie verprügelt, sinnierte er, womöglich sogar ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, hätte sie glatt umbringen können, und wer weiß, ob er’s nicht eines Tages tatsächlich tut, vielleicht noch heute morgen. Was uns Hitler angetan hat, war fünfundvierzig nicht zu Ende, sondern geht bis heute weiter und wird wohl ewig dauern. Hinter jeder Tür sind hier trübe Dinge im Gang, Gewalt- und Verzweiflungstaten. Unter diesem ganzen Staat brodelt versteckter Wahnsinn. Dreimal pro Woche kriegt unser langer Arm die Mörder in ihren Höhlen zu fassen. Wir können nicht einschlafen, ohne vorher ein kleines Pogrom unter den Kosaken zu veranstalten. Jeden Morgen wird Eichmann gefangen, und jeden Abend beseitigt man Hitler, solange er noch klein ist. Beim Basketball besiegen sie Chmelnizki, und bei der Eurovision rächen sie sich für Kischinew. Aber mit welchem Recht mische ich mich ein? Liebend gern würde ich auf einem weißen Pferd erscheinen und diese Frau Pisanti retten. Oder sie alle beide. Oder den ganzen Staat. Wenn ich nur wüßte, wie. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, wo man anfangen könnte. Ja Baruch mit seinem Trotzkibärtchen und seinem Spazierstock verbessert die Welt ein wenig, indem er Spenden, Beihilfen und milde Gaben verteilt, aber ich unterschreibe bloß Petitionen. Vielleicht hätte ich gestern abend doch jenen Polizisten überreden sollen, mich zu Schamir hineinzulassen? Zu einem Gespräch von Herz zu Herz? Oder Schamir mit meinem Taxifahrer bekannt machen müssen?
    Er kam auf die Idee, sich hinzusetzen und einen kurzen, aber von Herzen kommenden Aufruf an die Falken zu verfassen. Diesen Rechten im Ha’arez zwei, drei allgemeine Grundlinien für einen nationalen Teilkonsens vorzuschlagen. Eine Art neues Abkommen zwischen den Gemäßigten und dem nicht-messianischen rechtsgerichteten Element, das vielleicht trotz allem imstande wäre, eine Gebietsrückgabe zu verdauen,

Weitere Kostenlose Bücher