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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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ein Streicheln: Schon immer, seit seiner Kindheit, genoß er das Gefühl, daß erwachsene, verantwortliche Menschen in seiner Abwesenheit dasaßen und überlegten, wie sie ihm Gutestun konnten. Abwarteten, bis er eingeschlafen war, um seine Geburtstagsfeier zu planen. Zum Russischen übergingen, um zu beraten, mit welchem Geschenk man ihn überraschen sollte. Wenn er am Ende des Abends im Restaurant den Mut aufbrachte, Annette und Nina über Nacht zu sich nach Hause einzuladen, würde sich vielleicht momentane Betretenheit einstellen, aber letzten Endes würde man ihm den Antrag nicht abschlagen: Von Uri hatte er gelernt, daß derlei Kombinationen auch die weibliche Phantasie hypnotisierten. Und so erwartete ihn endlich eine stürmische griechische Nacht. Wieder würde er in Wonne schwelgen. Ein neues Geißbockjahr stand vor der Tür.
    Einige Minuten ließ er sich die Einzelheiten durch den Kopf gehen, verteilte Rollen, gestaltete Szenen. Dann hob er mutig den Hörer ab und rief Ninas Büro an. Da das Telefon keinen Ton von sich gab, versuchte er es mit Annette. Auch diesmal reagierte der Apparat mit Mäuschenstille. Vergeblich wählte er noch fünf-, sechsmal abwechselnd die beiden Nummern: Sämtliche Einrichtungen dieses Staates sind am Abbröckeln. Die Verkehrsadern sind verstopft, die Krankenhäuser lahmgelegt, das Stromnetz bricht zusammen, die Universitäten gehen bankrott, die Fabriken machen nacheinander zu, Wissenschaft und Erziehung sacken auf indisches Niveau ab, die öffentlichen Dienste sind völlig überfordert – und alles wegen diesem Wahnsinn mit den Gebieten, der uns langsam zerstört. Wie hatte der Taxifahrer ihm doch gesagt? Seit uns dieser Mist siebenundsechzig zugefallen ist, geht uns der Staat flöten.
    Fima riß den Apparat hoch, haute ihn auf den Tisch, rüttelte und schüttelte, redete ihm gut zu, flehte ihn an und beschwor ihn, hob ab und knallte wieder auf – nichts wollte helfen. Bis ihm einfiel, daß er eigentlich einzig und allein sich selber beschuldigen mußte: Mehrmals hatte er schriftliche Mahnungen bezüglich der unbezahlten Telefonrechnung im Briefkasten vorgefunden und sie schlichtweg ignoriert. Nun rächte man sich endlich an ihm. Schnitt ihn von der Welt ab. Wie den Kantor auf der einsamen Insel.
    Noch einmal versuchte er listig, ganz langsam zu wählen, mit sanftem, zarten Finger wie ein Dieb, wie ein Liebhaber, konnte sich nicht erinnern, ob die Notrufnummer für solche Fälle vierzehn oder achtzehn oder vielleicht hundert war. Er war absolut bereit, seine Schulden jetzt in diesem Augenblick zu begleichen, sich mündlich oder schriftlich zu entschuldigen, den Mitarbeitern der Telefongesellschaft einen unentgeltlichen Vortragüber die Mystik der christlichen Kirche zu halten, Buße oder Bestechungsgeld zu zahlen – solange man nur sofort kam, um seinen Apparat wieder zum Leben zu erwecken. Morgen würde er früh aufstehen und gleich als erstes zur Bank gehen. Oder etwa auf die Post? Würde seine Schulden bezahlen und von der einsamen Insel wegkommen. Aber morgen war Freitag, fiel ihm ein. Da schlössen die Ämter früh oder machten gar nicht erst auf. Sollte er seinen Vater anrufen und ihn bitten, seine Beziehungen spielen zu lassen? Nächste Woche würden die Anstreicher über ihn herfallen, die sein Vater auf ihn losgehetzt hatte. Vielleicht sollte er sich morgen aufmachen und nach Zypern fahren? Auf die Galapagosinseln? Oder wenigstens in die kleine Pension in Magdiel?
    Doch plötzlich änderte er seine Meinung. Sah die Lage in ganz neuem Licht. Im Handumdrehen atmete er auf: Das Schicksal selbst greift ein, um dich heute abend sowohl von Jean Gabin als auch von der nächtlichen Orgie zu befreien. Die Worte »einsame Insel« erfüllten ihn mit Wonne. Es wird großartig sein, einen ruhigen Abend daheim zu verbringen. Der Sturm kann nach Herzenslust von draußen an den Scheiben rütteln, und du zündest den Petroleumofen an, setzt dich in den Sessel und versuchst ein bißchen dem anderen, richtigen Fima näherzukommen, statt ermüdende diplomatische Anstrengungen zur Versöhnung zweier gekränkter Frauen zu unternehmen und dich dann auch noch die ganze Nacht abzurackern, um ihren Hunger zu stillen. Vor allem freute er sich, daß er wie mit einem Zauberstab von der Pflicht dispensiert war, sich anzuziehen und jetzt wieder in diese leere, frostige, regengepeitschte Stadt hinauszugehen. War es ihm denn wirklich in den Sinn gekommen, auf einmal Uri Gefens Rolle zu spielen? In

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