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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Schuld ist doch die Sühne.

27.
Fima weigert sich nachzugeben
    Um halb sieben Uhr morgens fuhr er erschrocken aus dem Schlaf hoch, weil in der Wohnung über ihm ein schwerer Gegenstand zu Boden gefallen war, gefolgt von einem gellenden Frauenschrei – nicht lang, auch nicht besonders laut, aber grauenhaft und verzweifelt, als habe die Betreffende dem Tod ins Auge gesehen. Fima sprang aus dem Bett, schlüpfte in die Hose und rannte auf den Küchenbalkon, um besser zu hören. Kein Laut drang aus der oberen Wohnung. Nur ein unsichtbarer Vogel tschilpte wieder und wieder drei sanfte Töne, als sei er zu dem Schluß gelangt, daß Fima schwer von Begriff war und gewiß weder verstanden hatte noch verstehen werde. Mußte er nicht hinaufeilen und feststellen, was da vor sich ging? Hilfe anbieten? Retten? Sofort die Polizei anrufen oder einen Krankenwagen bestellen? Da fiel ihm ein, daß man sein Telefon abgestellt und ihn damit von der Pflicht zum Eingreifen entbunden hatte. Außerdem konnte es ja sein, daß der Aufprall und der Schrei nicht im Wachen erfolgt waren, so daß er nur Verwirrung und Spott hervorrufen würde.
    Statt ins Bett zurückzukehren, verharrte er im langärmligen Unterhemd auf dem Küchenbalkon zwischen den Resten der Käfige, Gläser und Kartons, in denen einst Dimmis und sein Sack voll Flausen gehaust hatte. Jetzt verströmten sie den säuerlichen Modergeruch feuchter Sägespäne mit dem Gestank schwarz gewordener Kotkügelchen und vergammelter Futterreste – Karotten und Gurkenschalen, Kohl- und Salatblätter. Zu Winteranfang hatte Dimmi beschlossen, die Schildkröten, Käfer und Schnecken, die sie zusammen im Wadi gesammelt hatten, wieder freizulassen.
    Und wo war der Schnee der Nacht?
    Als sei er nie gewesen.
    Keine Spur existierte mehr davon.
    Aber die kahlen Berge im Süden Jerusalems standen geläutert da, von lichtem Azur überflutet, so daß man beinah die Unterseiten der fernen Olivenblätter auf dem Gebirgskamm von Bet-Jallah silbern schimmern sah. Es war ein kaltes, scharfes, kristallklares Licht, vielleicht als Vorschuß auf die fernen Tage übersandt, in denen das Leiden ein Ende haben, Jerusalem von seinen Qualen befreit sein wird und die Menschen, die an unsere Stelle treten, ihr Leben mit sanfter Klugheit und gegenseitiger Rücksichtnahme ruhig und sinnvoll leben – denn dann wird das Himmelslicht immer so sein.
    Die Kälte war bitter, durchdringend, aber Fima in seinem vergrauten Winterunterhemd spürte sie gar nicht. Er lehnte an der Brüstung, füllte seine Lungen tief mit der rührseligen Luft und staunte, daß Leid inmitten dieser Schönheit überhaupt möglich war. Ein kleines Wunder hatte sich heute morgen unten im Hinterhof ereignet: Ein übermütiges, ungeduldiges Mandelbäumchen hatte plötzlich beschlossen auszuschlagen, als habe es sich im Kalender geirrt, und war nun über und über mit winzigen Nachtglühwürmchen bedeckt, die sich bei Tagesanbruch auszuschalten vergessen hatten. Auf den rosa Knospen tanzten Regentropfen in Fülle. Das glitzernde Blütenbäumchen ließ Fima an eine zarte, schöne Frau denken, die die ganze Nacht geweint hatte, ohne die Tränen abzuwischen. Diese Ähnlichkeit weckte in ihm kindliche Freude, Liebe, erstickte Sehnsucht nach Jael – ja unterschiedslos allen Frauen – und dabei auch den entschiedenen Willen, von heute morgen an ein neues Kapitel in seinem Leben anzufangen: ab sofort ein vernünftiger, ehrlicher, guter Mensch zu werden, frei von Lügen und jeglicher Verstellung. Also zog er ein sauberes Hemd an, schlüpfte in Jaels Pullover, stieg mit einem Mut, der ihn selber überraschte, die Treppe hinauf und klingelte energisch oben an der Nachbarwohnung. Einige Augenblicke später öffnete ihm Frau Pisanti im halb zugeknöpften Morgenrock über dem Nachthemd. Ihr breites, kindliches Gesicht schien Fima plattgedrückt und irgendwie ein wenig zerquetscht. Aber möglicherweise sah ja jeder, den man aus dem Schlaf gerissen hatte, mehr oder weniger so aus. In dem durch eine bleiche Neonröhre erleuchteten Flur funkelten hinter ihr die Augen ihres Mannes, eines behaarten, athletischen Typs, der weit größer als sie war. Die Nachbarin fragte besorgt, ob was passiert sei.
    Fima geriet ins Stammeln: »Im Gegenteil ... Verzeihung ... garnichts ... Ich dachte, es sei was ... vielleicht bei Ihnen runtergefallen? Oder zerbrochen? Es schien mir wohl bloß so, als hörte ich ... so etwas? Tatsächlich habe ich mich wohl geirrt. Anscheinend war es

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