Der dritte Zustand
sei nur die Berührung dieses Gnadenlichts geeignet, den Dingen – wenigstens für eine kurze Weile – ihre Ursprünglichkeit wiederzugeben, die bereits in uralten Zeiten, be’edanim mikadmat dena , erloschen war. Würde der Herr mir eine leichte Kinnbewegung schenken, wenn ich auf die Knie fiele und das Dankgebet am Morgen spräche? Gibt es irgend etwas Bestimmtes, Spezifisches, das der Herr mir zu tun aufgibt? Interessiert sich der Herr für uns? Wozu hat er uns hierhergesetzt? Warum hat er uns auserwählt? Warum Jerusalem erwählt? Hört der Herr noch? Geruht der Herr zu grinsen?
Der aramäische Ausdruck mikadmat dena , ebenso wie die Wendungen schelo ma-alma hadin und sitra de-itkassia , erregte bei Fima ehrfürchtiges Staunen. Einen Moment fragte er sich, ob es sein konnte, daß Licht und Morast, die Glühwürmchen des Mandelbaums und das strahlende Firmament, die Wüsten, die sich gen Osten bis ins Zweistromland und gen Süden bis ans Tor der Tränen am fernen Ende der Arabischen Halbinsel ausdehnten, ja auch sein verwohntes Zimmer und sein alternder Körper, jasogar das kaputte Telefon, allesamt nur verschiedene Ausdrucksformen einer und derselben Wesenheit waren. Der es beschieden war, sich in unzählige fehlerhafte, vergängliche Inkarnationen aufzuteilen, obwohl sie selbst vollkommen, ewig und eins war. Nur wenn ein Wintermorgen wie dieser in einem durchscheinenden Lichtschleier aufzieht, den vielleicht der archaische Ausdruck nehora ma-alja , Licht von droben, umschreibt, nur dann kehrt die Wonne der ersten Berührung auf die Erde und in deine sehenden Augen zurück. Und alles wird wieder jungfräulich. Alles wie am Schöpfungstag. Allem wird für einen kurzen Moment das ewige, trübe Tuch der Trostlosigkeit und der Lügen abgenommen. Damit gelangte Fima zu dem abgedroschenen Begriff »himmlisches Jerusalem«, dem er seine private, einzig und allein für seine eigenen Empfindungen und eben diesen Augenblick zutreffende Auslegung gab. Er grübelte darüber nach, daß ihm mal der Schlaf weniger lügenbehaftet als das Wachen erschien, während ein andermal umgekehrt gerade das extreme Wachsein ihm dringlichst ersehntes Herzensanliegen war. Und jetzt kam er auf die Idee, es handele sich vielleicht gar nicht um zwei, sondern um drei Zustände: Schlaf, Wachen und dieses Licht, das ihn seit Morgenanfang gänzlich über- und durchflutete. Mangels einer passenderen Bezeichnung definierte er für sich dieses Licht mit den Worten »der dritte Zustand«. Und hatte dabei das Empfinden, daß hierunter nicht das reine Gebirgslicht allein zu verstehen war, sondern ein Licht, das gleichermaßen von den Bergen und von ihm ausging, und daß die Paarung der Strahlen den dritten Zustand hervorbrachte, der von der absoluten Wachheit und dem tiefsten Schlaf gleich weit entfernt war. Und sich doch von beiden unterschied.
Es gibt auf der Welt nichts Tragischeres, als diesen dritten Zustand zu verpassen, dachte er. Schuld an diesem Versäumnis sind das Nachrichtenhören im Radio, die diversen Erledigungen, hohle Begierden und das Jagen nach Eitlem und Geringem. All die Leiden, sagte sich Fima, alle Schalheit und Absurdität erwachsen nur daraus, daß man den dritten Zustand verfehlt. Oder aus der vagen, nagenden Herzensahnung, die uns von Zeit zu Zeit von ferne daran erinnert, daß es dort – draußen und drinnen, fast in greifbarer Nähe – etwas Grundwichtiges gibt, zu dem du gewissermaßen dauernd unterwegs bist, nur daß du ebenso dauernd vom Weg abirrst: Man hat dich gerufen, und du hast vergessen zu kommen. Man hat gesprochen, und du hast nicht hingehört. Man hat dir geöffnet, und du hast gezaudert, bis das Tor wieder geschlossen war, weil du vorher lieber noch diesenoder jenen Wunsch befriedigen wolltest. Das Meer des Schweigens hat Geheimnisse von sich gegeben, und du warst mit der Erledigung unwichtiger Dinge beschäftigt. Bist lieber losgelaufen, um jemandem zu gefallen, der ebenfalls alles verpaßt vor lauter Begierde, bei jemand anderem Gefallen zu finden, der selbst wiederum – und so weiter und so fort. Bis zum Staube. Wieder und wieder hast du das Vorhandene zugunsten dessen, was es nie und nimmer gegeben hat, nicht geben wird und auch nicht geben kann, zurückgewiesen. Gad Etan hat recht gehabt, als er väterlich behauptete, hier herrsche die Verschwendung. Und seine Frau hat recht daran getan, zu fliehen, solange sie es noch konnte. Die Prioritäten, sagte Fima traurig und fast laut, die Prioritäten
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