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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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hersagte, damit er sie nicht vergaß: Erstens Bargeld abheben. Genug damit, dauernd ohne einen Groschen herumzulaufen. Zweitens all seine Schulden für Telefon, Wasser, Petroleum, Kanalisation, Gas und Strom bezahlen. Drittens endlich seinen Kontostand feststellen. Doch als er beim Zeitungs- und Schreibwarenladen an der Ecke angekommenwar, hatte er den vierten Punkt bereits vergessen. Sosehr er sein Hirn auch quälte, er kam nicht darauf. Indes sah er eine neue Ausgabe der Monatsschrift Politika innen an die Scheibe der geschlossenen Tür geheftet. Er trat ein, las rund eine Viertelstunde im Stehen darin herum und geriet in helles Entsetzen bei der Lektüre von Zwi Kropotkins Aufsatz, der behauptete, die Friedensaussichten seien, zumindest in der näheren Zukunft, gleich Null. Noch heute morgen, beschloß Fima, mußte er bei Zwicka vorbeischauen und ihm ein paar harte Worte über den Defätismus der Intelligenzija sagen: Defätismus nicht in dem Sinn, in dem die militante Rechte ihn uns dummdreist zuschreibt, sondern in einem anderen, tieferen, ungleich ernsteren Sinn.
    Der erwachte Zorn brachte einen gewissen Nutzen: Sofort nach Verlassen des Zeitungsladens bog Fima vom Weg ab, überquerte ein Leergrundstück, betrat einen unfertigen Rohbau, und kaum hatte er den Reißverschluß herunter, entleerte sich seine Blase auch schon in starkem, stabilen Strahl. Es scherte ihn überhaupt nicht, daß Schuhe und Hosenränder schlammverschmiert wurden, denn er fühlte sich als Sieger. Schlenderte weiter nach Norden, passierte die Bank, ohne es zu merken, wurde aber, je weiter er ging, immer begeisterter, weil er sah, daß das Mandelbäumchen in seinem Hinterhof keineswegs als einziges Knospen angesetzt hatte, ohne erst das Neujahrsfest der Bäume abzuwarten. Wobei er sich dessen bei näherem Nachdenken allerdings nicht mehr ganz sicher war, da er nicht wußte, welches Datum man heute nach dem jüdischen Kalender schrieb. Ja auch an das bürgerliche Datum konnte er sich nicht erinnern. Jedenfalls besteht kein Zweifel, daß wir heute noch Februar haben, und schon hebt der Frühling den Kopf. Darin erblickte Fima eine einfache Symbolik, ohne sich zu fragen, was sie nun symbolisieren wollte, spürte aber, daß Grund zur Freude bestand: Als sei durch ein ungewolltes Erbe die Verantwortung für die Stadt mit allem Drum und Dran auf ihn gekommen, und nun stelle sich heraus, daß er nicht ganz seine Pflicht vernachlässigt hatte. Das transparente Hellblau des Morgens war inzwischen in ein tiefes Blau übergegangen, als habe sich das Meer mit dem Obersten nach unten über Jerusalem gewölbt, um die Stadt mit Kindergartenwonne zu erfüllen. Geranien und Bougainvilleen in den Höfen schienen in Flammen aufzugehen. Die Steinmäuerchen glänzten wie poliert. »Nicht übel, was?« sagte Fima in Gedanken zu irgendeinem unsichtbaren Gast oder Touristen.
    An der Biegung zum Viertel Beit Vagan stand ein junger Mann im Militäranorak, die Maschinenpistole über die Schulter gehängt, umringt von Blumeneimern, und bot Fima einen Chrysanthemenstrauß für den Schabbat an. Fima fragte sich, ob das nicht ein Siedler aus den Gebieten war, der seine Blumen auf uns nicht gehörenden Böden zog. Und entschied sofort, wer bereit ist, Kompromisse und Frieden mit Arafat zu schließen, darf die Gegner aus den eigenen Reihen nicht boykottieren. Obwohl er immer noch Argumente für die eine wie die andere Auffassung sah, fand er weder Haß noch Wut in sich, vielleicht, weil ihm Jerusalem heute morgen wegen des tiefblau schimmernden Lichts als ein Ort erschien, an dem wir alle die Gegensätze zwischen uns respektieren müssen. Deshalb steckte er die Hand in die Tasche, wo er mühelos drei Schekelmünzen fand, gewiß das Wechselgeld, das er die Nacht zuvor von seinem neuen Informationsminister herausbekommen hatte. Und drückte die Blumen an die Brust, als wolle er sie vor dem Biß der Kälte schützen.
    »Verzeihung, hatten Sie etwas zu mir gesagt?« fragte Fima. »Tut mir leid. Ich hab’s nicht recht gehört.«
    Der jugendliche Blumenverkäufer antwortete mit breitem Lächeln: »Ich hab’ nur Schabbat Schalom gewünscht.«
    »Ja gewiß«, pflichtete Fima bei, als lege er den Grundstein für einen neuen nationalen Konsens, »danke. Auch Ihnen Schabbat Schalom.«
    Die Luft war kalt, gläsern, obwohl kein Wind wehte. Als habe das Licht selber einen klaren nördlichen Einschlag. Das Wort »klar« erfüllte Fima insgeheim mit sonderbarer Freude. Man muß das

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