Der dritte Zustand
Mühe den jähen Drang ersticken, ihr sein Szenario für die dort in naher Zukunft, nach dem Zusammenbruch des Apartheid-Regimes, zu erwartende Entwicklung auszubreiten. Er war überzeugt, daß es ein Blutbad nicht nur zwischen Weißen und Schwarzen, sondern auch – und gerade – innerhalb der beiden Gruppen geben werde. Und wer weiß, ob uns nicht eine ähnliche Gefahr droht. Aber der Ausdruck »Blutbad« erschien ihm als abgewetztes Klischee. Ja sogar die Wendung »abgewetztes Klischee« hinterließ in diesem Moment einen faden Geschmack.
Neben ihm auf dem Küchentisch stand eine offene Packung gekaufter Butterkekse. Unwillkürlich wanderten seine Finger dort hinein, und er mampfte ein Plätzchen nach dem anderen. Während Jael ihm Kaffee mit Milch vorsetzte, schilderte er ihr verschwommen, was sich vorgestern abend hier zugetragen hatte und wie es dazu kam, daß er in ihrem Bett eingeschlafen, Dimmi aber bis ein Uhr nachts wach geblieben war. Ihr beiden seid auch nicht besonders: fahrt einfach los, euch in Tel Aviv ein feines Leben zu machen, und laßt nicht mal eine Telefonnummer für Notfälle da.Wenn das Kind nun eine Gallenkolik bekommen hätte? Oder einen Stromschlag? Oder Gift geschluckt hätte? Fima verhaspelte sich, weil er auch nicht andeutungsweise die Sache mit der Opferung preisgeben wollte. Stammelte aber trotzdem etwas bezüglich des Leids, das die Nachbarskinder Dimmi offenbar zufügten: Du weißt doch, Jael, daß er nicht wie alle anderen ist – mit Brille, überernst, Albino und kurzsichtig – fast könnte man sagen: halb blind –, viel kleiner als seine Altersgenossen, vielleicht wegen einer Hormonstörung, die ihr vernachlässigt, ein sensibles, innerliches Kind, nicht innerlich – in sich gekehrt, in sich gekehrt ist auch nicht genau das richtige Wort, vielleicht geistig veranlagt, oder seelisch betont, er läßt sich nicht leicht definieren. Schöpferisch. Oder richtiger, ein origineller, interessanter Junge, den man sogar als tief bezeichnen könnte.
An diesem Punkt kam Fima auf die Nöte des Heranwachsenden in einer von Grausamkeit und Gewalt geprägten Zeit: Abend für Abend schaut Dimmi mit uns die Fernsehnachrichten, Abend für Abend wird der Mord auf dem Bildschirm trivialer. Redete dann von sich in Dimmis Alter, ebenfalls ein introvertierter Junge, ebenso ohne Mutter, während sein Vater ihn systematisch verrückt zu machen suchte. Sprach davon, daß die einzige emotionale Bindung dieses Kindes offenbar gerade zu ihm, Fima, bestehe, obwohl Jael sehr wohl wisse, daß er sich niemals als geeignete Vaterfigur betrachtet, ja daß das Vateramt ihm stets eine Mordsangst eingejagt habe, und trotzdem scheine ihm zuweilen, daß es ein tragischer Fehler gewesen sei und alles ganz anders – reiner – hätte sein können, wenn nur –
Jael schnitt ihm das Wort ab und sagte kühl: »Trink endlich deinen Kaffee aus, Efraim. Ich muß gehen.«
Fima fragte, wohin sie gehen müsse. Er werde sie mit Freuden begleiten. Egal, wohin. Er habe heute morgen nichts vor. Sie könnten sich unterwegs weiter unterhalten. Dieses Gespräch erscheine ihm zwingend notwendig und auch ziemlich dringend. Oder vielleicht solle er lieber hier warten, bis sie zurück sei? Damit sie dann weiterreden könnten? Es mache ihm nichts aus zu warten: Es sei ja heute Freitag, sein freier Tag, die Praxis sei geschlossen, und am Sonntag würden ihn die Maler überfallen, so daß ihn zu Hause nur deprimierende Abbau- und Packarbeit erwarte. Und was meinst du? Würdest du Teddy vielleicht Samstag morgen für ein bis zwei Stunden rüberschicken, um mir die Regale ... egal. Er wisse, daß das alles lächerlich sei und nicht zur Sache gehöre. Könne er ihr hier bis zu ihrer Rückkehr vielleicht was bügeln? Oder Wäsche zusammenlegen?Bei anderer Gelegenheit werde er mal versuchen, ihr einen Gedanken auseinanderzusetzen, der ihn in letzter Zeit viel beschäftige: eine Vorstellung, die er als »der dritte Zustand« bezeichne. Nein, es sei keine politische Idee. Eher eine existentielle Frage, wenn man sich noch so ausdrücken könne, ohne abgedroschen zu klingen. Erinner mich bei Gelegenheit daran. Du brauchst bloß »der dritte Zustand« zu sagen, und schon weiß ich, was gemeint ist, und erklär’s dir. Obwohl es vielleicht einfach Quatsch ist. Egal im Moment. Hier in Jerusalem ist doch so ungefähr jeder zweite Typ ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident. Einschließlich Zwicka Kropotkin. Einschließlich Schamir
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