Der dritte Zustand
erklingen, die den Schabbatbeginn ankündigte. Das Gewimmel in den Gassen würde versiegen. Schöne, sanfte Stille, das Schweigen von Pinien, Stein und eisernen Läden würde von den Berghängen rings um die Stadt hinabwallen und sich über Jerusalem ausbreiten. Männer und Kinder in züchtiger Feiertagskleidung würden mit Gebetbüchern in die zahlreichen kleinen Bethäuser streben, die hier in jeder Gasse verstreut lagen. Die Hausfrau würde die Kerzen anzünden und der Vater in weichem orientalischen Tonfall den Weinsegen sprechen. Familie nach Familie würde sich zu Tisch setzen. Arme, notleidende Menschen, die auf die Erfüllung der Gebote setzen und nicht das Unerforschliche zu erforschen suchen. Menschen, die Gutes erhoffen, wissen, was vor ihnen liegt, stets darauf vertrauen, daß auch die Regierenden sicher wissen, was vor ihnen liegt, und alles weise richten. Gemüsehändler, Krämer, Kaufleute und Straßenhändler, Lehrlinge, niedrige Beamte der Stadt- oder Staatsverwaltung, kleine Makler, Postbeamte, Verkaufsagenten, Handwerker. Fima versuchte, sich den Alltag in diesem Viertel auszumalen und dann den Zauber von Schabbat und Feiertagen. Dabei war er sich bewußt, daß die Bewohner hier ihr karges Brot sicher mühsam verdienten und gewiß ihre Last mit Schulden, Einkommen und Hypothekenzahlungen hatten. Aber trotzdem erschien ihm ihr Leben richtig, echt, erfüllt von Ruhe und geheimer Freude, die er nie gekannt hatte und bis zu seinem Tode auch nicht kennen würde. Auf einmal wünschte er sehnlich, in diesem Augenblick in seinem Zimmer zu sitzen, oder vielleicht eher noch im eleganten Wohnzimmer seines Vaters in Rechavia zwischen den hochglanzpolierten Möbeln, dicken Teppichen und glitzernden Lüstern mitteleuropäischen Stils, umgeben von Büchern, Porzellan und Kristall, endlich auf die Hauptsache konzentriert.
Aber was war diese Hauptsache? Was, in Gottes Namen, war die Hauptsache?
Vielleicht dies: aufstehen und mit einem Streich, von heute, von Schabbatbeginn an, das Geschwätz, die Vergeudung und die Lüge wegwischen, unter denen sein Leben begraben lag. Richtig war, seine Armseligkeit in Demut zu akzeptieren, sich für immer mit der Einsamkeit abzufinden, indie er sich aus freien Stücken begeben hatte – endgültig und unwiderruflich. Von nun an würde er in Schweigen leben. Sich abkapseln. Seine häßlichen Verbindungen zu all den weiblichen Pflegefällen abbrechen, die in der Wohnung und in seinem Leben herumliefen. Davon ablassen, Zwi und Uri und die anderen aus der Gruppe mit gestenreichen Spitzfindigkeiten zu belästigen. Jael würde er von fern lieben, ohne als Störenfried aufzutreten. Vielleicht würde er sogar auf die Reparatur des Telefons verzichten: sollte auch der Apparat von jetzt an schweigen. Damit er aufhörte zu prahlen und zu lügen.
Und Dimmi?
Dimmi würde er sein Buch widmen. Denn ab nächste Woche würde er jeden Morgen vor der Praxis fünf bis sechs Stunden im Lesesaal der Nationalbibliothek zubringen. Würde systematisch alle vorhandenen Quellen, einschließlich der vergessenen oder kuriosen, neu durchsehen. Und wäre so in einigen Jahren imstande, ehrlich und genau die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang des zionistischen Traums zu schreiben. Oder sollte er womöglich lieber einen witzigen, leicht verrückten Roman über Leben, Tod und Auferstehung des Judas Iskariot verfassen? Den er ungefähr nach seiner eigenen Person gestalten könnte?
Eigentlich war es besser, nicht zu schreiben. Von heute an Zeitungen, Radio und Fernsehen für immer fahrenzulassen. Höchstens würde er den klassischen Musiksendungen lauschen. Jeden Morgen, Sommer wie Winter, würde er beim ersten Tageslicht eine Stunde lang den Olivenhain drunten im Wadi, vor seinem Haus, durchstreifen. Danach bescheiden frühstücken, Gemüse, Obst und eine Scheibe Schwarzbrot ohne Marmelade, sich rasieren – aber warum denn rasieren, nein, er würde seinen Bart wild wachsen lassen – und sich dann hinsetzen, um nachzudenken. Abends nach der Arbeit würde er sich noch ein bis zwei Stunden die Stadt erwandern. Sich systematisch mit Jerusalem vertraut machen. Nach und nach ihren Zauber erkunden. Jede Gasse, jeden Hinterhof, jede Nische entdecken, nachsehen, was sich hinter jeder Steinwand verbarg. Keine Agora würde er mehr von seinem verrückten Vater annehmen. Und am Abend würde er allein am Fenster stehen und seiner inneren Stimme lauschen, die er bisher ständig durch Geschwafel und Komödien zu
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