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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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britischer Offizier. In steifer Haltung saß er da. Die Uniformmütze ruhte zu Füßen der Rose. Wo mochten die Seen- und Waldbilder seither gelandet sein? Wo auf der Welt speiste jetzt der einsame britische Offizier? Und wo bist du gelandet? Eine Stadt der Sehnsüchte und des Wahnsinns. Ein Flüchtlingslager, keine Stadt.
    Dabei kannst du dich doch immer noch aufmachen und ihr entfliehen. Kannst Dimmi und Jael mitnehmen und dich irgendeinem Kibbuz in der Wüste anschließen. Kannst dich aufraffen und um Tamars oder Annette Tadmors Hand anhalten. Dich mit ihr in Magdiel niederlassen und dort auf der Bank, in der Krankenkasse, im Sozialversicherungsamt arbeiten und nachts wieder Gedichte schreiben. Ein neues Kapitel anfangen. Dem dritten Zustand ein wenig näherkommen.
    Seine Füße trugen ihn von selbst tief in das Gassengewirr des Bucharenviertels. Langsam trottete er unter den in allen Farben schillernden Wäscheleinen dahin, die sich quer über die graue Straße von Haus zu Haus spannten. Auf den Balkonen, deren schmiedeeiserne Geländer verrostetwaren, sah er Laubhüttengestänge, Blechkanister, Schrott, Waschschüsseln, zerberstende Kisten, Wasserbehälter, all den Ausschuß der engen Wohnungen. Fast jedes Fenster war hier mit grellbunten Gardinen verhängt. Auf den Simsen standen Weckgläser, in denen eingelegte Gurken in Knoblauchwasser mit Petersilien- und Dillblättchen schwammen. Fima spürte auf einmal, daß diese um Innenhöfe mit alten, steinernen Zisternen gebauten Viertel, die nach Braten, Zwiebeln, Backwerk, Würzfleisch und Rauch dufteten, ihm in kehligen Lauten eine ehrliche, einfache Antwort auf eine Frage anboten, die er um nichts in der Welt zu formulieren vermochte. Und er spürte, daß etwas Dringliches immer stärker von innen und außen an sein Herz pochte, sanft und beklemmend daran nagte, wie das vergessene Spiel des Mannes Johnny Guitar, wie die Seen und Wälder an den Wänden des kleinen Restaurants, in das seine Mutter ihn Freitag mittags nach den Einkäufen auf dem Markt mitnahm. Und er sagte sich: »Genug. Laß man.«
    Wie jemand, der an seiner Wunde herumkratzt und weiß, daß er damit aufhören muß, aber nicht aufhören kann.
    In der Rabbenu-Gerschom-Straße begegneten ihm drei kleine, füllige Frauen, die einander derart ähnlich sahen, daß Fima annahm, sie seien vielleicht Schwestern oder auch eine Mutter mit ihren Töchtern. Er starrte sie fasziniert an, weil sie fruchtbare, verschwenderisch üppige, rundliche Gestalten waren, wie die Sklavinnen auf orientalischen Haremsbildern. Seine Phantasie malte ihm ihre breite, üppige Blöße und ihre Hingabe, die gewiß gehorsam und unterwürfig erfolgte, wie bei Büffetkellnerinnen, die warme Fleischstücke an die Schlange der Hungrigen austeilen, ohne erst groß zwischen den Gunstempfängern zu unterscheiden. Sie erbrachten die Körpergabe in gewohnter Gleichgültigkeit, ja sogar leichter Langeweile – die Fima in diesem Moment weit sinnlicher und aufreizender als alle Leidenschaftsstürme der Welt erschienen. Einen Augenblick später folgte eine Welle der Scham und löschte seine Begierde: Warum hatte er heute morgen auf Jaels Körper verzichtet? Hätte er nur noch etwas mehr List und Geduld aufgebracht, wäre ein bißchen stur geblieben, hätte sie ihm sicher nachgegeben. Zwar lustlos, aber was machte das schon? Ging es denn um Lust?
    Aber worum ging es dann eigentlich?
    Die drei Frauen verschwanden um die Gassenecke, während Fima verlegen, erregt und beschämt auf der Stelle verharrte. In Wirklichkeit hatte erdoch heute morgen gar nicht Jaels schlanken Körper begehrt, sondern sich vage nach einer anderen – nicht sexuellen, auch nicht mütterlichen – Verschmelzung gesehnt, das heißt, Verschmelzung auch wieder nicht, sondern nach etwas, von dem Fima nicht wußte, was es war, aber doch spürte, daß gerade dieses verborgene, undefinierbar feine Etwas – so es ihm nur ein einziges Mal vergönnt wäre – sein Leben vielleicht zum Besseren wenden könnte.
    Dann nahm er sich zusammen und seine Meinung zurück. Die Worte »sein Leben zum Besseren wenden« mochten vielleicht für einen verwirrten Halbwüchsigen mit Pubertätspickeln im ganzen Gesicht passen, nicht aber für einen Mann, der fähig war, einen Staat in der Krise zu führen und ihn auf den rechten Weg zum Frieden zu lenken.
    Später, vor einem kleinen Schuhgeschäft, das gleichzeitig Schusterwerkstatt war, hielt Fima inne, um den berauschenden Duft des Schuhmacherleims

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