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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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rücksichtsvolle, einander ergebene Kumpels, verbunden durch starke Bande gegenseitiger Aufmerksamkeit und Zuneigung.
    Im ganzen Viertel herrschte emsiges Freitagmittagstreiben: Hausfrauen schleppten volle Einkaufstaschen, Straßenhändler priesen mit gutturalen Schreien ihre Waren an, ein rostfleckiger, verbeulter Lieferwagen, dessen eines Rücklicht eingeschlagen war wie das Auge eines Kneipenraufbolds, rangierte vier- oder fünfmal vor und zurück, bis es ihm wie durch ein Wunder gelang, sich auf dem Gehsteig in die enge Lücke zwischen zwei anderen, nicht weniger alten und mitgenommenen Lieferwagen zu zwängen. Dieser Erfolg freute Fima, als sei er Vorzeichen für eine sich auch ihm eröffnende Chance.
    Ein blasser Aschkenase mit hängenden Schultern und leicht vorquellenden Augen, der aussah, als leide er an einem schweren Magengeschwür, wenn nicht an Krebs, schob stark schnaufend einen quietschenden Kinderwagen voll Lebensmitteln in Papier- und Plastiktüten und einer ganzen Batterie Limoflaschen die Steigung hinauf. Zuoberst lag eine Abendzeitung, deren Seiten im Wind flatterten. Fima lugte schräg auf die Schlagzeile und schob die Zeitung dann behutsam zwischen die Flaschen, da er fürchtete, sie könnte jeden Augenblick hochwirbeln und auseinanderfliegen. Der Alte sagte nur: »Nu. Schoin.«
    Ein graugelber Hund kam in einschmeichelndem Trott, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, angelaufen, beschnüffelte zaghaft die Hosenkrempen des besorgten Fima, fand kein besonderes Interesse an ihm und entfernte sich mit gesenkter Schnauze. Es könnte doch sein, grübelte Fima, daß dies zum Beispiel ein Urururenkel des Hundes Balak ist, der hier vor rund achtzig Jahren den Verstand verloren und sämtliche Gassen ringsum in Angst und Schrecken versetzt hat, bis er unter großen Qualen starb.
    In einem Hof sah er die Reste eines verfallenen Palastes, den Kinder aus kaputten Kisten und Kästen errichtet hatten. Dann, an der Wand einer Synagoge namens Erlösung Zions – Lehrhaus der Gemeinde ehemaligerMashhader 25 prangten mehrere Graffiti, die Fima sich erst einmal betrachtete: »Gedenket des Schabbattages, ihn zu heiligen.« Das »ihn« erschien ihm überflüssig, aber zu seiner Verblüffung war er sich dessen nicht ganz sicher. »Kahane muß ran – der Ma’arach 26 in den Bann.« Und »Den Verleumdern sei keine Hoffnung.« Sei? Ist? Haben? Auch hier war er sich nicht sicher und beschloß, später daheim im Gebetbuch nachzuschlagen. »Schulamit Alloni 27 fickt mit Arafat.« »Bedenke, daß du Staub bist.« Dieser letzten Inschrift stimmte Fima kopfschüttelnd zu. »Rachel frißt in de Goß.« Links von diesem Graffito fand er zu seinem Bedauern »Frieden jetzt – schlägt fehl zuletzt.« Aber er hatte ja immer gewußt, daß man tief pflügen mußte. Und dann »Auge um Auge«, Worte, die ihn schmunzelnd über die Frage nachdenken ließen, was der Dichter damit sagen wollte. Eine andere Hand hatte hingekritzelt: »Malmilian 28 , der Verreder, hat seine Mutter verkauft!« Fima begriff, daß der Schreiber Verräter mit Verreder verwechselt hatte, fand aber doch einen gewissen Zauber an diesem Fehler. Als habe irgendeine lyrische Eingebung über der schreibenden Hand geschwebt, die der Schreibende nicht sehen konnte und doch umgesetzt hatte.
    Der Erlösung Zions gegenüber befand sich ein winziger Laden, fast nur eine Nische, für Schreibwaren. Die Scheibe war völlig von Fliegendreck überzogen und kreuz und quer mit Resten von Klebeband gegen Bombenschäden übersät. Ein Andenken an einen der Kriege, die wir vergebens gewonnen haben, dachte Fima. In der kleinen Auslage türmten sich allerlei verstaubte Schreibblöcke, Hefte, deren Ränder sich vor Alter schon wellten, ein verblichenes Porträt von Mosche Dayan in Generalsuniform vor der Westmauer, das die Fliegen ebenfalls nicht verschont hatten, sowie Radiergummis, Lineale und billige Plastikfedertaschen, zum Teil mit den aufgedruckten Konterfeis runzliger aschkenasischer Rabbiner oder sephardischer Thoragelehrter in reichgeschmückten Gewändern. Zwischen all dem erspähte Fima ein dickes, in grauen Karton gebundenes Heft mitmehreren hundert Blättern, von der Sorte, die Schriftsteller und Philosophen vergangener Generationen sicher verwendet hatten. Plötzlich erfüllten ihn Sehnsucht nach seinem Schreibtisch und tiefe Abneigung gegen die Gipser und Anstreicher, die sein geregeltes Alltagsleben bedrohten. In drei, vier Stunden würde hier die gellende Sirene

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