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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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notieren Sie sich mal zwei Telefonnummern –«
    »Aber im Moment habe ich auch kein Telefon«, fiel Fima ihm ins Wort.
    Der Talmudstudent blickte ihn versonnen von der Seite an, als taxiere er ihn in Gedanken, und meinte dann zögernd, die Stimme fast zum Flüsterton gesenkt: »Sind Sie etwa, Gott behüte, irgendwie in Bedrängnis, mein Herr? Sollen wir Ihnen von uns aus jemanden schicken, um nachzusehen, wie man Ihnen helfen kann? Sagen Sie’s ruhig, Sie brauchen sich nicht zu schämen. Oder am besten, Sie feiern den Schabbat mit uns? Spüren einmal, was es heißt, unter Brüdern zu sein?«
    »Nein. Danke«, erwiderte Fima.
    Und diesmal lag etwas in seiner Stimme, das den Talmudstudenten veranlaßte, ihm beklommen Schabbat Schalom zu wünschen und sich davonzumachen. Wobei er sich zweimal nach Fima umschaute, als fürchte er, man sei ihm auf den Fersen.
    Einen Moment lang bedauerte Fima, daß er diesem Hausierer in Sachen Mizwot und Autos keine ätzende Antwort verpaßt hatte, einen theologischen Faustschlag, den er nie wieder vergessen würde. Er hätte ihn zum Beispiel fragen können, ob man für die Ermordung eines fünfjährigen arabischen Mädchens dort oben ebenfalls fünf Pluspunkte bekam? Oder ob ein Kind in die Welt zu setzen, das weder man selbst noch die Mutter haben will, als Vergehen oder Mizwa gelte? Im nächsten Moment reute es ihn zu seiner Verblüffung wiederum ein wenig, daß er nicht nachgegeben hatte, und sei es nur, um diesem jungen Nordafrikaner in wolhynischer oder galizischer Verkleidung eine kleine Freude zu machen, der ihm trotz seiner offensichtlichen Verschlagenheit naiv und gutwillig erschien: Sicher bemühte auch er sich auf seine Weise, das Unverbesserliche ein wenig zu verbessern.
    Unterdessen passierte er, gedankenverloren vor sich hintrottend, eine Schreinerei, einen Lebensmittelladen, dem starker Räucherfischgeruch entströmte, eine Metzgerei, die ihm mörderisch blutrünstig aussah, und ein düsteres Geschäft für züchtige Häubchen und Perücken, stoppte schließlich an einem nahen Kiosk und erstand die Wochenendausgaben von Jediot Acharonot, Cbadascbot und Ma’ariv , denen er aus einer verschwommenen Neugier heraus auch noch das ultraorthodoxe Blatt Jated Ne’eman hinzufügte. Nunmehr mit einem wahren Berg Freitagszeitungen beladen, betrat Fima eine winzige Imbißstube Ecke Zefanja-Straße. Es war ein kleiner Familienbetrieb mit nur drei ramponierten rosa Resopaltischen, beleuchtet von einer schwachen Glühbirne, die schmierig-gelbes Licht unter sich verbreitete. Überall spazierten träge Fliegen herum. Ein Bär von einem Mann döste, den Bart zwischen die Zähne geklemmt, hinter der Theke, worauf Fima einen Augenblick die Möglichkeit erwog, ob das nicht etwa er selbst hinter dem Praxistresen war, den man durch einen Zauber hierherversetzt hatte. Er sank auf einen nicht übermäßig sauber wirkenden Plastikstuhl und versuchte sich zu erinnern, was seine Mutter ihm Freitag mittags vor tausend Jahren im Restaurant des Ehepaars Danzig bestellt hatte. Zum Schluß entschied er sich für Hühnersuppe, Gulasch mit gemischtem Salat, Fladenbrot und sauren Gurken und eine FlascheSchweppes. Während des Essens wühlte er den Zeitungsstapel durch, bis seine Finger schwarz und die Blätter voller Fettflecke waren.
    Im Ma’ariv , auf der zweiten Seite, stand eine Nachricht über einen arabischen Jüngling aus Jenin, der bei lebendigem Leib verbrannt war, als er versuchte, einen in der Hauptstraße jener Stadt geparkten Armeejeep anzuzünden. Die Nachforschungen hätten ergeben, hieß es, daß die zusammengeströmten Araber den Militärsanitäter daran gehindert hätten, dem brennenden jungen Mann erste Hilfe zu leisten, und auch die Soldaten nicht an ihn heranließen, um das Feuer zu löschen, weil die Menge anscheinend glaubte, der vor ihren Augen Verbrennende sei ein israelischer Soldat. An die zehn Minuten lang sei der Jüngling »unter grausigen Schreien« bei lebendigem Leib an dem selbst gelegten Feuer verkohlt, bis er verstummte und seinen Geist aufgab. In dem Städtchen Or Akiva war indes ein kleines Wunder geschehen: Ein etwa fünfjähriger Junge war aus einem hohen Stockwerk gestürzt, hatte dabei eine schwere Kopfverletzung davongetragen und das Bewußtsein seit Ende des Versöhnungstags nicht wiedererlangt. Inzwischen hatten die Ärzte ihn aufgegeben und in eine Pflegeanstalt verlegt, in der er bis zum letzten Atemzug nur noch dahinvegetieren sollte. Doch die Mutter,

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