Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
eine einfache Frau, die weder lesen noch schreiben konnte, wollte die Hoffnung nicht begraben. Nachdem die Ärzte ihr mitgeteilt hatten, daß das Kind keine Heilungschancen habe und nur ein Wunder es noch zurückholen könne, pilgerte sie zu einem berühmten Rabbi nach Bne Brak und rief ihn um Hilfe an. Der Rabbi befahl der Mutter, einen gewissen Talmudschüler, der als geistig behindert bekannt war, gegen Entlohnung zu beauftragen, dem stummen, gelähmten Kind Tag und Nacht immer wieder direkt in die Ohrmuschel Blatt 90 aus dem Sohar-Band zur Genesis, von den Worten »Mosche sprach, o Ewiger« bis »und erfuhr oben Verbindung durch Jizchak« (das Kind hieß Jizchak) vorzulesen. Und tatsächlich zeigte der Junge nach vier Tagen und vier Nächten erste Lebenszeichen, und jetzt war er gesund und munter, rannte, fromme Lieder singend, umher und besuchte auf Sonderstipendium ein streng orthodoxes Internat, in dem er sich bereits den Ruf eines wunderbaren kleinen Talmudgenies erworben hatte. Warum probiert man Blatt 90 des Sohar nicht auch mal an Jizchak Rabin aus? Und an Jizchak Schamir? Fima grinste und schimpfte über die Soße, die ihm auf die Hose gespritzt war.
    Im Jated Ne’eman las er flüchtig einen bösen Erguß über die Entvölkerungder Kibbuzim, deren gesamte Jugend, nach den Worten des Blattes, in den entlegensten Winkeln des Fernen Ostens und der Anden umherstreune, wo sie sich schrecklichen heidnischen Sekten anschlösse. Und wiederum im Ma’ariv empfahl ein altgedienter Publizist der Regierung, bloß nicht überstürzt allen möglichen zweifelhaften Friedenskonferenzen nachzurennen: Wir müssen zumindest so lange abwarten, bis die israelische Abschreckungskraft wieder völlig hergestellt ist. Keinesfalls dürfen wir aus einer Position der Panik und Schwäche an den Verhandlungstisch treten, während das Schwert der Intifada uns gewissermaßen noch an der Gurgel sitzt. Friedensverhandlungen wären wohl erst dann wünschenswert, wenn die Araber endlich begriffen, daß sie weder eine politische noch militärische noch sonstwelche Aussicht haben, und – den Schwanz zwischen die Beine geklemmt – bei uns angelaufen kommen und uns um Frieden anflehen.
    In Chadaschot stieß er auf eine überspannte Satire, die in etwa besagte, statt Eichmann aufzuhängen, hätten wir ihn lieber in weiser Voraussicht begnadigen sollen, um uns seine einschlägige Erfahrung und sein Organisationstalent zunutze zu machen, denn jetzt sei er hier durchaus am Platz unter denen, die den Arabern zusetzen und sie in Massen nach Osten vertreiben möchten, ein Metier, in dem Eichmann bekanntlich Spezialkenntnisse besessen habe. Danach fand er in der Wochenendbeilage von Jediot Acbaronot eine Farbreportage über die Leiden einer ehemals berühmten Sängerin, die harten Drogen verfallen war – und gerade jetzt, da sie sich von ihrer Sucht zu lösen suchte, kam ein herzloser Richter und entzog ihr das Sorgerecht für ihr kleines Töchterchen, das einer Affäre mit einem umjubelten Fußballstar entstammte, der die Vaterschaft nicht anerkennen wollte. Das Baby war auf gerichtliche Anordnung einer Pflegefamilie übergeben worden, von der sie, die Sängerin, energisch behauptete, der Mann dort sei in Wirklichkeit ein jugoslawischer Goj, der nicht einmal nach den Regeln der jüdischen Halacha übergetreten und womöglich gar nicht beschnitten sei.
    Nachdem Fima vergeblich sämtliche Hosen-, Hemd- und Jackentaschen umgekrempelt hatte und beinah verzweifelt wäre, wurde er zum Schluß ausgerechnet in der Jackeninnentasche fündig, aus der er einen zusammengefalteten Zwanzigschekelschein fischte, den Baruch dort unbemerkt eingeschleust haben mußte. Er zahlte, stammelte zum Abschied einige beschämte Entschuldigungen und ging – unter Zurücklassung des gesamten Zeitungsbergs.
    Beim Verlassen des Restaurants merkte er, daß es kälter geworden war. Ein abendlicher Schatten lag bereits in der Luft, obwohl es erst Nachmittag war. Der rissige Asphalt, die verrosteten Eisentore, in die hier und da das Wort Zion eingelassen war, die Schilder von Läden, Werkstätten, Talmudschulen, Vermittlungsbüros und Wohlfahrtskassen, die auf dem Gehweg aufgereihte Mülltonnenbatterie, die von fern zwischen den verwahrlosten Höfen durchlugenden Berge – das alles nahm verschiedene Grautöne an. Von Zeit zu Zeit drangen fremde Laute in das feste Getriebe der Gassen: Glockenklänge – hoch und langsam oder abgehackt und tief, fein, laut oder elegisch – und ein

Weitere Kostenlose Bücher