Der dritte Zustand
beschwingte Bekanntschaften ohne jede Verpflichtung ergeben, unbeschwerte Bande, wie sie in dem von geifernden Propheten wimmelnden Jerusalem gar nicht möglich waren. In irgendeiner Zeitung hatte er kürzlich gelesen, fromme Reiseagenten wüßten vorzügliche Beziehungen zu knüpfen, die es ihnen ermöglichten, Flugtickets zu Spottpreisen anzubieten. Und dort in Rom, zwischen gepflegten Palazzi und gepflasterten Plätzen, nimmt das Leben doch offen und fröhlich seinen Lauf, angefüllt mit Vergnügungen ohne Schmach und Schuld, und wenn in Rom auch Gewalt und Unrecht vorkommen sollten, hast du das Unrecht dort doch nicht zu verantworten, und die Leiden lasten dir nicht auf dem Gewissen.
Ein dicker, bebrillter junger Mann, die rosigen Wangen glatt rasiert, aber auf dem Kopf ein flaches schwarzes Käppchen, hob zwei kindliche Augen von einem Buch, das er hastig mit einer Ausgabe der frommen Zeitung Hamodia abdeckte, und begrüßte Fima in lautem aschkenasischen Tonfall: »Schalom alechem, mein Herr.« Er mochte um die fünfundzwanzig sein, wirkte aber gesetzt, honorig und selbstsicher, als er diensteifrig hinzufügte: »Was kann ich bitte für Sie tun?«
Fima stellte fest, daß hier neben Auslandsreisen auch Lottoscheine, Lotterielose und Lose der Wohlfahrtslotterie zugunsten des Roten Davidsterns verkauft wurden. Er blätterte in einigen Broschüren, die ihm »Urlaubspakete« in eleganten, streng orthodoxen Hotels in Safed und Tiberias anboten, eine Kombination von körperlicher Regeneration unter fachärztlicher Aufsicht und seelischer Läuterung durch fromme Gebete »an den heiligen Gräbern von Löwen der Thora und Adlern der Weisheit«. Doch nun, vielleicht weil er entdeckte, daß das weißgestärkte Oberhemd des jungen Reisekaufmanns an Kragen- und Ärmelrändern – haargenau wie sein eigenes – leicht angeschmutzt war, änderte Fima seinen Vorsatz und beschloß, die Romreise aufzuschieben. Zumindest bis er mit seinem Vater darüber gesprochen und sich mit Uri Gefen beraten hatte, der heute oder morgen von dort zurückkehren mußte. Oder erst Sonntag? Trotzdem zögerte er ein wenig, überflog einen Prospekt mit Bildern von koscheren Pensionen in »der berggekrönten Schweiz«, schwankte zwischen Lotto und Staatslotterie und entschied sich schließlich, um den Mann, der seine Unschlüssigkeit geduldig und zuvorkommend hingenommen hatte, nicht ganz zu enttäuschen, ein Los des Roten Davidsterns zu erwerben. Mußte dann aber auch darauf verzichten, weil er in seinen Taschen, außer AnnettesOhrring, nur noch drei Schekel vorfand: das Wechselgeld, das er zuvor in dem Fliegenlokal in der Zefanja-Straße herausbekommen hatte. Also nahm er dankend ein paar überzählige Prospekte mit detaillierten Angaben über Gruppenreisen für Gesetzestreue entgegen. In einem hieß es auf hebräisch, englisch und jiddisch, durch die Gnade des Allmächtigen habe sich soeben der Weg aufgetan, zu den Gräbern »hoher Zaddikim« in polnischen und ungarischen Landen zu reisen, dortselbst heilige Stätten aufzusuchen, die der Bedränger, ausgelöscht sei sein Name, verwüstet habe, und sich auch an den Schönheiten Jefets zu erfreuen, die den Geist des Menschen weiteten – und all das in streng koscherer jüdischer Atmosphäre unter Leitung hervorragender, erfahrener, unbescholtener Reiseleiter und mit Erlaubnis und Empfehlung großer Thoragelehrter. Der Reiseagent sagte: »Vielleicht möchte der Herr uns nach reiflicher Überlegung erneut beehren?«
»Möglich«, erwiderte Fima. »Mal sehen. Auf jeden Fall vielen Dank und Entschuldigung.«
»Keine Ursache, mein Herr. Es war uns eine Ehre und ein Vergnügen. Einen guten gesegneten Schabbat wünsche ich noch.«
Als Fima weiter aufwärts Richtung Gewerkschaftsgebäude ging, kam ihm der Gedanke, daß dieser rundliche, diensteifrige Bursche mit den Wurstfingern und dem gestärkten, an Kragen und Manschetten schwärzlichen Hemd mehr oder weniger im Alter des Sohnes war, auf den Jael zwei Minuten von hier in irgendeiner Praxis in der Hanevi’im-Straße verzichtet hatte. Dabei grinste er traurig, denn, von dem Käppchen und der salbungsvollen Tenorstimme abgesehen, hätte ein Außenstehender womöglich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und diesem dicklichen, angeschmutzten, glattzüngigen jungen Reiseagenten festgestellt, der so unbedingt gefallen wollte. Ja eigentlich konnte man auch hinsichtlich des vollen Kantortenors nicht ganz sicher sein. Ob Jael wohl gewisser Muttergefühle
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