Der dritte Zustand
ferner Lautsprecher, Luftdruckhämmer und dumpfes Sirenengeheul. All diese Geräusche vermochten jedoch nicht das Schweigen Jerusalems zu übertönen, dieses ständige, allem zugrunde liegende Schweigen, das man, wenn man nur will, in Jerusalem stets aus allem Lärm heraushören kann. Ein alter Mann und ein Kind, vielleicht ein Großvater mit seinem Enkel, kamen Fima langsamen Schritts entgegen.
Der Junge fragte: »Aber du hast doch gesagt, drinnen in der Erde war’ Feuer, warum ist dann der Boden nicht heiß?«
»Erst mal mußt du ein bißchen lernen, Jossei«, erwiderte der Großvater. »Je mehr du lernst, desto besser verstehst du, daß wir am besten gar nichts fragen.«
Fima mußte daran denken, daß in seiner Kindheit ein alter Hausierer durch die Straßen Jerusalems gezogen war, der – einen schiefen, quietschenden Handwagen vor sich herschiebend und einen Sack überm Rücken – gebrauchte Möbel und Kleidung an- und verkaufte. In den Knochen hörte Fima noch die wie ein Verzweiflungsschrei gellende Stimme des Alten: Zuerst war sie ein paar Straßen entfernt dumpf, unheilverkündend, bedrohlich wie aus Erdentiefen aufgeklungen. Ganz langsam, als krieche der Mann auf dem Bauch von Gasse zu Gasse, war das Rufen dann heiser, grauenhaft, spröde näher gekommen – al-te Sa-chen, al-te Sa-chen –, von einem einsamen, durch Mark und Bein dringenden Unterton durchzogen wie ein verzweifelter Hilfeschrei, als würde dort jemand abgestochen. Irgendwie verband sich dieser Aufschrei in Fimas Erinnerung mit Herbst, mit niedrigen Wolken, Donner und ersten staubigen Regentropfen, mit geheimnisträchtigem Pinienrauschen, grauem trüben Licht, mit leeren Gehwegen und verlassenen Vorgärten im Wind. Angst überkam ihn und drang zuweilen sogar nachts in seine Träume ein. Wie eine letzte Warnung vor sich anbahnendem Unheil. Lange Zeit kannte er die Bedeutung der jiddischenWorte al-te Sa-chen nicht und war sicher, diese schnarrende, furchterregende Stimme rufe ihm warnend zu: » Al te-sa-ken! – Werd nicht alt!« Auch nachdem seine Mutter ihm erklärt hatte, daß ›alte Sachen‹ nichts als Gebrauchtwaren bedeute, konnte er das grauenhafte Gefühl nicht loswerden, das Unheil selber ziehe von Straße zu Straße immer näher heran, klopfe an die Hoftore, warne ihn von fern vor Alter und Tod mit dem verzweifelten Rufen eines Betroffenen, den das Übel schon gepackt hat und der nun andere daran gemahnt, daß auch ihre Stunde kommen werde.
Jetzt, da Fima an dieses Gespenst denken mußte, tröstete er sich grinsend mit den Worten des ehemaligen Beamten in Frau Scheinfelders Restaurant, dem Mann, den Gott vergessen hatte: Macht nichts. Wir sterben ja doch alle.
Am oberen Ende der Strauß-Straße hielt Fima vor dem schrill dekorierten Schaufenster eines ultraorthodoxen Reisebüros namens Adlersflügel. Betrachtete im Stehen eine Weile das ausgestellte Farbplakat, auf dem der Eiffelturm in einer Lücke zwischen Big Ben und Empire State Building ragte. Daneben lehnte sich der schiefe Turm von Pisa zu dem Dreigestirn hinüber, gefolgt von einer holländischen Windmühle, vor der zwei völlig verblödete fette Kühe grasten. Der Werbetext lautete: Mit Gottes Hilfe kommen Sie an Bord und fahren wie ein Lord! Und darunter in den traditionellen Lettern heiliger Bücher: Zahlung auch in sechs bequemen zinsf reien Raten möglich. Außerdem prangte dort eine Luftaufnahme von Bergen in ewigem Schnee mit der in hellblauen Lettern quer gedruckten Aufschrift: Unbeschwert verreisen – glatt-koscher speisen.
Fima faßte den Beschluß einzutreten und sich nach dem Preis einer ermäßigten Flugkarte nach Rom zu erkundigen. Sein Vater würde ihm die Summe sicher anstandslos vorstrecken, und in ein paar Tagen würde dann auch er mit Uri Gefen und Annettes Mann in einem netten Café an der Via Veneto sitzen, in der Gesellschaft freizügiger, kühner Frauen und vergnügungssüchtiger Männer Cappucino schlürfen, scharfsinnig über Salman Rushdie und den Islam debattieren und seine Augen an den Figuren der vorbeiflanierenden Mädchen weiden. Oder umgekehrt: würde allein am Fenster einer kleinen Pension mit grünen Holzläden sitzen, auf das alte Gemäuer hinausschauen, einen Briefblock auf den Knien, und von Zeit zu Zeit pointierte Prognosen und Gedankengänge zu Papier bringen. Vielleicht würde sich ein Spalt in dem versiegten Brunnen auftun und neue Gedichte sprudeln lassen. Vielleicht auch würden sich wie von selbst unbekümmerte,heiter
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