Der dritte Zustand
für ein derart gemästetes Geschöpf fähig gewesen wäre? Mit den trüben blauen Augen hinter der dicken Brille? Mit den rosigen Schweinsbäckchen? Wäre sie imstande gewesen, sich hinzusetzen und ihm ein blaues Wollmützchen mit weichem Wollbommel zu stricken? Arm in Arm mit ihm auf den Machane-Jehuda-Markt zu gehen und ihn zwischen schwarzen Oliven wählen zu lassen? Und du? Hättest du ab und zu den Drang verspürt, ihm einen zusammengefalteten Geldschein in die Tasche zu stecken? Anstreicher für ihn zu bestellen? Jael hat also doch recht gehabt. Wie immer. Das ist bei ihr angeboren.
Und trotzdem, dachte er plötzlich bitter, es hätte doch auch eine Tochter werden können. Eine kleine Guilietta Masina mit zartem, schmalen Rücken und feinem, blonden Haar. Die man vielleicht nach ihrer Großmutter, Lisa, hätte nennen können oder in der hebräischen Form Elischewa. Obwohl Jael sich dem vermutlich widersetzt hätte.
Eine bittere, kalte Frau, sagte er sich verwundert.
Wirklich nur durch deine Schuld? Nur wegen dem, was du ihr angetan hast? Bloß wegen des griechischen Versprechens, das du nicht eingehalten hast und nicht einhalten konntest und das auch kein anderer an deiner Stelle hätte einhalten können? Einmal hatte er neben Nina Gefens Bett eine alte, zerflederte Übersetzung des Romans Frau ohne Liebe liegen sehen. Von FranÅois Mauriac? Oder André Maurois? Oder vielleicht Alberto Moravia? Er hätte Nina fragen sollen, ob es in jenem Roman um eine ungeliebte oder aber eine der Liebe unfähige Frau ging. Der Titel Frau ohne Liebe ließ sich immerhin so oder so interpretieren. Doch im selben Moment erschien ihm der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten fast bedeutungslos. Nur höchst selten hatten Jael und er unter sich das Wort »Liebe« benutzt. Abgesehen vielleicht von der Griechenlandzeit, in der er wie die drei Mädchen auch in den Worten nicht wählerisch gewesen waren.
Kraniche kreisten und sind weg.
Als er die Straße überquerte, war scharfes Bremsenquietschen zu vernehmen. Ein Lieferwagenfahrer schimpfte lauthals über ihn: »Komm mal her, bist du noch normal?«
Fima dachte ein wenig darüber nach, erschauerte mit Verspätung und murmelte kleinmütig: »Entschuldigung. Tut mir leid, Verzeihung.«
»Total schwachsinnig. Vollidiot«, schrie der Fahrer. »Hast mehr Glück als Verstand.«
Fima dachte auch darüber nach, und als er den gegenüberliegenden Gehsteig erreicht hatte, stimmte er dem Fahrer zu. Und auch Jael, die sich entschieden hatte, ihm keinen Sohn zu gebären. Ja sogar der Möglichkeit, hier am Schabbatvorabend auf der Straße überfahren zu werden, statt nach Rom zu flüchten. Wie der arabische Junge, den wir vorgestern in Gaza umgebracht haben. Verlöschen. Zu Stein werden. Vielleicht das nächste Mal als Schleuderschwanz zur Welt kommen. Jerusalem für Joeser räumen. Und er nahm sich vor, heute abend seinen Vater anzurufen und ihm mit allem Nachdruck mitzuteilen, daß die Tüncherei abgesagt sei. Er werdesich ja sowieso bald aufmachen und hier wegfahren. Und diesmal würde er nicht nachgeben, nicht weich werden, keinen Kompromiß eingehen, sondern bis zum Ende auf seinem Standpunkt beharren und Baruchs Finger ein für allemal aus seinen Taschen und aus seinem Leben verscheuchen.
Am Ärztehaus an der Kreuzung Strauss-Hanevi’im-Straße hatten sich einige Menschen versammelt. Fima trat dazu und erkundigte sich, was geschehen sei. Ein kleinwüchsiger Mann mit Vogelnase und sattem bulgarischen Akzent wußte ihm zu berichten, es sei hier ein verdächtiger Gegenstand gefunden worden und jetzt warte man auf das Eintreffen des Sprengstoffexperten der Polizei. Worauf ein bebrilltes junges Mädchen sagte, ach was, stimmt nicht, eine schwangere Frau ist auf den Stufen in Ohnmacht gefallen, und gleich kommt der Krankenwagen. Fima drängte sich rudernd zum Zentrum des Geschehens vor, da er feststellen wollte, welche Version der Wahrheit näherkam. Obwohl er auch in Betracht zog, daß sie beide gleich falsch sein konnten. Oder, gerade umgekehrt, beide richtig? Angenommen beispielsweise, die schwangere Frau hatte den verdächtigen Gegenstand gesehen und war vor lauter Schreck ohnmächtig geworden?
Aus dem Streifenwagen, der mit Blaulicht und Martinshorn eintraf, forderte jemand die Leute über Megaphon auf, auseinanderzutreten, um den Weg freizugeben. Fima gehorchte aus einem Reflex staatsbürgerlicher Pflichterfüllung sofort, und trotzdem schubste ihn ein schwitzender, nicht
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