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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Kulturhauses oder Pensionärsklubs auftraten. Obwohl Fima schon jahrelang indieser Praxis arbeitete, verkrampfte sich sein Herz jedesmal, wenn er ihr Spiel hörte – als antworte ein verborgenes Cello in seinem Innern auf den Ruf eines Cellos von droben, erwidere mit stummem Zauberklang. Und als wachse tatsächlich über die Jahre eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem, was man hier unten Frauenkörpern mit Edelstahlzangen antat, und der klingenden Melancholie von oben.
    Dr. Wahrhaftig sah einen dicklichen, schlampigen Fima mit dreckverschmierten Knien und Händen vor sich, der ihn wie ein betretenes Kind anlächelte. Wie immer erregte Fimas Anblick seine freudige Zuneigung, vermischt mit dem starken Drang, ihm einen Rüffel zu erteilen. Er war ein sanfter, etwas ängstlicher Mann, der aufgrund seines rührseligen Wesens häufig nur mit Mühe die Tränen zurückzudrängen vermochte, besonders wenn jemand sich bei ihm entschuldigte und um Vergebung bat. Vielleicht war er deswegen stets bemüht, den gestrengen Wüterich zu markieren und seine ganze Umgebung durch Tadel und Rügen einzuschüchtern. Die ihm aber wiederum stets höflich gerieten, sichtlich bedacht, ja nicht zu verletzen: »Ah! Exzellenz! Herr Generalmajor von Nissan! Geradewegs aus dem Schützengraben! Man muß Ihnen einen Orden anheften!«
    Fima sagte zaghaft: »Ich hab’ mich ein bißchen verspätet. Tut mir leid. Ich bin hier im Eingang ausgerutscht. So ein Regen draußen.«
    Wahrhaftig brüllte: »Ach ja! Wieder mal diese fatale Verspätung! Wieder mal force majeure !« Und erzählte Fima zum hundertstenmal den Witz von dem Verstorbenen, der zu seiner eigenen Beerdigung zu spät gekommen war.
    Er war ein breiter, massiger Typ mit der Gestalt eines Kontrabasses, das rote, schmächtige Gesicht aufgedunsen wie das eines Säufers und mit einem Netz kränklicher Adern durchzogen, die so dicht unter der Haut lagen, daß man ihm beinah den Puls am Zittern des Wangengewebes ablesen konnte. Zu jeder Gelegenheit hatte er einen Scherz parat, der stets mit den Worten »es gibt einen alten Witz« begann. Und jedesmal brach er in schallendes Lachen aus, sobald er sich nur der Pointe näherte. Fima, der bereits zur Genüge wußte, warum der Tote seine Beerdigung verpaßt hatte, lächelte trotzdem leicht, weil er diesen sanften Mann, der den Tyrannen nur spielte, gern mochte. Wahrhaftig schwang mit seiner dröhnenden Herrscherstimme oft lange Reden über Themen wie die Beziehung zwischen Eßgewohnheiten und Weltanschauung oder den ewigen Gegensatzzwischen dem Künstler und dem Gelehrten oder das sozialistische Wirtschaftssystem, das zu Nichtstun und Schwindelei ermuntere und daher für einen geordneten Staat unpassend sei. Die Worte »geordneter Staat« pflegte er mit mystischem Pathos auszusprechen – wie ein Gläubiger, der die Wundertaten Gottes preist.
    »Leer bei uns heute«, sagte Fima.
    Wahrhaftig erwiderte, in einigen Minuten müsse eine Dame, eine berühmte Malerin, mit einer leichten Eileiterverstopfung eintreffen. Das Synonym Muttertrompete erinnerte ihn dann wiederum an einen alten Witz, den er Fima nicht ersparte.
    Inzwischen war lautlos wie auf Samtpfoten Dr. Gad Etan aus seinem Zimmer hervorgeschossen. Hinter ihm kam die Schwester Tamar Greenwich, die etwas von den Pionierinnen der alten Generation an sich hatte – eine Mittvierzigerin im himmelblauen Baumwollkleid, das Haar streng zurückgekämmt und zu einem kleinen Wollknäuel im Nacken gebunden. Wegen eines eigenartigen Pigmentfehlers war das eine Auge grün und das andere – braun. Sie durchquerte die Aufnahme, am Arm eine blasse Patientin, die sie in ein hier »Aufwachraum« genanntes Nebenzimmer führte.
    Dr. Etan, ein elastischer Tarzantyp, lehnte sich an den Aufnahmeschalter und kaute langsam seinen Kaugummi. Mit einer Kinnbewegung erwiderte er Fimas Gruß oder Wahrhaftigs Frage an ihn oder auch beides. Seine wäßrigblauen Augen fixierten irgendeinen Punkt hoch über der Modigliani-Reproduktion. Mit seinem blasierten Gesicht und dem schmalen blonden Schnurrbärtchen erschien er Fima wie ein hochmütiger preußischer Diplomat, der gegen seinen Willen an die Botschaft in der Äußeren Mongolei versetzt worden ist. Er ließ Wahrhaftig noch einen alten Witz fertig erzählen. Dann trat Stille ein, in die er ein Weilchen später, wie ein schläfriger Gepard, fast ohne die Lippen zu bewegen, einwarf: »Los. Genug gebrabbelt.«
    Wahrhaftig gehorchte sofort und trottete ihm nach ins

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