Der dritte Zustand
Eintragungen Zeit blieb, las er schon mal einen Roman in Englisch. Oder die Biographie eines Staatsmanns. Doch meist las er keine Bücher, sondern verschlang die beiden Abendzeitungen, die er auf dem Herweg kaufte, peinlich bedacht, auch nicht die kleinste Meldung zu übersehen. Kommentare, Klatschspalten, eine Veruntreuung im Safeder Konsumladen, eine Bigamieaffäre in Aschkelon, eine unglückliche Liebe in Kfar Saba – alles war für ihn von Interesse. Hatte er die Zeitungen durchforstet, saß er nachdenklich da. Oder berief Kabinettssitzungen ein, steckte seine Minister in Guerillauniformen, schwang Reden vor ihnen, verkündete bedrohliche und tröstende Prophezeiungen, erlöste die Kinder Israels gegen ihren eigenen Willen und schuf Frieden im Land.
Wenn Ärzte und Schwester zwischen den Behandlungen zu ihm herauskamen, um Kaffee zu trinken, büßte Fima zuweilen jäh die Fähigkeit zum Zuhören ein und fragte sich, was er eigentlich hier machte, was ihn mit diesen Fremden verband. Doch er fand keine Antwort auf die Frage, wo erdenn sonst sein müßte. Obwohl er heftig, schmerzlich spürte, daß es einen Ort gab, an dem man auf ihn wartete und über sein Ausbleiben verwundert war. Danach kramte er lange in seinen Taschen, förderte schließlich Tabletten gegen Sodbrennen zutage, von denen er eine im Mund zerkaute, und durchforstete noch einmal die Zeitungen – womöglich hatte er die Hauptsache übersehen.
Etan war Wahrhaftigs Exschwiegersohn: Gad Etan hatte Alfred Wahrhaftigs einzige Tochter geheiratet, die vor zehn Jahren mit einem Gastdichter, in den sie sich bei ihrer Arbeit auf der Jerusalemer Buchmesse verliebt hatte, nach Mexiko durchgebrannt war. Wahrhaftig, der Gründer und Seniorpartner der Praxis, legte Gad Etan gegenüber ein sonderbar ehrfürchtiges Verhalten an den Tag und überhäufte seinen ehemaligen Schwiegersohn mit kleinen Gesten demütiger Selbstverleugnung, die er unter höflichen Wutausbrüchen zu tarnen suchte. Dr. Etan, der auf Fruchtbarkeitsprobleme spezialisiert war, bei Bedarf aber auch als Anästhesist fungierte, war hingegen ein kühler, schweigsamer Typ. Er besaß die feste Angewohnheit, lange konzentriert auf seine Finger zu starren, als fürchte er sie zu verlieren. Oder als verblüffe ihn deren bloße Existenz nach wie vor. Tatsächlich waren es lange, wohlgeformte, bewundernswert musikalische Finger. Außerdem bewegte sich Etan wie ein schläfriges Tier oder umgekehrt wie jemand, der diese Minute aus dem Schlaf erwacht. Zuweilen legte sich ein leises, kaltes Lächeln über seine Züge, bei dem die wäßrigblauen Augen nicht mitmachten. Doch gerade diese Kühle weckte staunendes Vertrauen bei den Frauen und irgendeinen Drang, ihn aus seiner Reserve hervorzulocken oder seine Grausamkeit zum Schmelzen zu bringen. Etan ignorierte zarte Werbungen und quittierte Geständnisse seiner Patientinnen mit einem trockenen Satz wie: »Gut. Ja. Aber es bleibt keine Wahl.« Oder: »Was soll man machen. So was passiert.«
Mitten in Wahrhaftigs Witzen vollführte Etan zuweilen eine schnelle Hundertachtziggraddrehung im Stand, wie ein Panzerturm, und verschwand mit katzenartigen Schritten hinter seiner Sprechzimmertür. Es schien, als weckten alle Menschen, egal ob Männer oder Frauen, leichte Verachtung bei ihm. Und da er seit einigen Jahren wußte, daß Tamar in ihn verliebt war, hatte er seinen Spaß daran, ihr ab und zu einen kurzen, ätzenden Satz an den Kopf zu werfen: »Was hast du denn heute für einen Geruch an dir.« Oder: »Zieh doch den Rock glatt. Du brauchst deine Knie nicht an uns zu verschwenden. Diesen Anblick bietet man uns hier zwanzigmalam Tag.« Und diesmal sagte er: »Leg mir bitte Scheide und Gebärmuttermund dieser Malerin auf den Tisch. Ja. Die berühmte Dame. Ja. Die Ergebnisse. Was hast du denn gedacht. Ja. Ihre. Deine brauche ich nicht.«
Tamars Augen, das grüne linke wie das braune rechte, füllten sich mit Tränen der Demütigung. Worauf Fima, als wolle er die Prinzessin aus den Klauen des Drachens befreien, aufsprang und selbst das gewünschte Krankenblatt zum Tisch des Arztes trug. Der einen leeren Blick hineinwarf, die Augen dann wieder starr auf seine Finger richtete – vor der starken Behandlungslampe erstrahlten seine weiblichen Finger in unnatürlichem, fast durchsichtigem Rosenglanz – und es für richtig hielt, auch Fima mit einer tödlichen Salve zu belegen: »Weißt du zufällig, was ›Regel‹ bedeutet? Dann richte bitte Frau Licht aus, ja,
Weitere Kostenlose Bücher