Der dritte Zustand
sagten sie, er übertreibt gern, hat kein Gefühl für das richtige Maß, aber wenn er glänzt, dann glänzt er. Eines Tages werden wir noch von ihm hören. Der Einsatz lohnt sich bei ihm. Wie er etwa letzten Freitag – zu Beginn des Abends, bevor er mit seinen Politikerimitationen anfing – Zwi das Wort »Kult« vom Mund weggeschnappt und uns alle wie Kleinkinder gefesselt hat, als er plötzlich bemerkte, »aber es ist doch alles Kult«, und dann aus dem Handgelenk diese Theorie da entwickelte, über die wir nun schon die ganze Woche sprechen. Oder dieser verblüffende Vergleich zwischen Kafka und Gogol, die er dann beide wiederum den chassidischen Volkslegenden gegenüberstellte.
Im Lauf der Jahre lernten einige von ihnen die Mischung aus Scharfsinn und Zerstreutheit, Trauer und Begeisterung, Feinsinn und Hilflosigkeit, Tiefe und Torheit zu schätzen, die sie bei Fima entdeckten. Außerdem konnte man ihn jederzeit zum Korrigieren von Druckfahnen oder zur Beratung über einen Aufsatzentwurf heranziehen. Hinter seinem Rücken tuschelte man gutmütig: Das ist doch einer, wie soll man sagen, ein origineller, warmherziger Typ, bloß faul ist er. Ohne jeden Ehrgeiz. Denkt einfach nicht an morgen. Dabei ist er ja nicht mehr jung.
Trotz allem: etwas an seinem dicklichen Äußeren, seiner plumpen, gedankenversunkenen Gehweise, der hübschen hohen Stirn, den müde herabhängenden Schultern, dem schütteren hellen Haar, den guten Augen, die immer verloren nach innen oder aber über Berge und Wüsten hinweg zu schauen schienen – etwas an seiner Gestalt überschwemmte sie mit Zuneigung und Freude und zauberte ihnen ein breites Lächeln aufs Gesicht, wenn sie ihn auch nur von weitem, von der anderen Straßenseite aus, im Stadtzentrum herumlaufen sahen, als wisse er nicht, wer ihn hergebracht hatte und wie er hier wieder herauskam. Dann sagten sie: Da geht Fima und fuchtelt mit den Armen, diskutiert sicher mit sich selbst und siegt gewiß in der Debatte.
Auch entstand über die Jahre eine gespannte, zornerfüllte, widerspruchsvolle Freundschaft zwischen Fima und seinem Vater, dem bekannten Kosmetikfabrikantenund Altmitglied der Cherut-Bewegung 3 Baruch Numberg. Noch jetzt, da Fima vierundfünfzig und sein Vater zweiundachtzig Jahre zählte, stopfte der Vater seinem Sohn zum Abschluß eines jeden Besuchs zwei, drei Zehnschekelnoten oder einen Zwanziger in die Hosentasche. Und Fima zahlte insgeheim monatlich achtzig Schekel auf ein Sparkonto ein, das er auf den Namen von Teds und Jaels Sohn eröffnet hatte. Der Junge war jetzt zehn Jahre alt, sah aber immer noch wie sieben aus: verträumt und voller Vertrauen. Manchmal meinten Fremde im Autobus eine leichte Ähnlichkeit zwischen dem Kind und Fima festzustellen – im Kinnschnitt, an der Stirn oder vielleicht im Gang. Im letzten Frühjahr hatte Dimmi zwei Schildkröten und ein paar Seidenraupen in einem kleinen Verschlag halten wollen, den Fima und Ted ihm auf dem verlotterten Küchenbalkon in Kiriat Jovel freimachten. Und obwohl Fima bei anderen und auch in seinen eigenen Augen als unrettbar vergeßlicher, zerstreuter Faulpelz galt, gab es den ganzen Sommer über nicht einen einzigen Tag, an dem er vergessen hätte, das zu reinigen, mit Futter zu versorgen und zu streuen, was er als »unseren Flausensack« bezeichnete. Aber jetzt im Winter waren die Seidenraupen eingegangen. Und die zwei Schildkröten hatten sie dort unten im Wadi freigelassen, wo Jerusalem aufhört und die Felsenöde beginnt.
4.
Hoffnungen auf den Anfang eines neuen Kapitels
Der Eingang zur Privatpraxis in Kiriat Schmuel lag auf der Rückseite des Hauses. Ein mit Jerusalemstein gepflasterter Pfad führte durch den Garten dorthin. Jetzt im Winter bedeckten regenfeuchte Piniennadeln den Weg und machten ihn schlüpfrig. Fima war ganz und gar in die Frage vertieft, ob der kältestarre Vogel, den er auf einem niedrigen Zweig entdeckt hatte, wohl die von West nach Ost rollenden Donnerschläge hörte: Kopf und Schnabel hatte er tief unter den Flügeldaunen vergraben. Von Zweifeln befallen, blickte Fima noch einmal nach hinten, um sich zu vergewissern, ob es wirklich ein Vogel war oder vielleicht nur ein nasser Zapfen. Dabei rutschte er aus und landete auf den Knien. Ja, verharrte kurz auf allenvieren – nicht etwa vor Schmerzen, sondern vor lauter Schadenfreude über sich selbst. Und sagte mit leiser Stimme: Alle Achtung, mein Lieber.
Irgendwie fand er diesen Sturz wohlverdient, und zwar gerade als logische
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