Der dritte Zustand
Folge des kleinen Wunders, das sich auf der Herfahrt am Fuß des Hilton-Hotels ereignet hatte.
Schließlich kam er wieder auf die Beine und blieb zerstreut im Regen stehen wie jemand, der nicht weiß woher und wohin. Er hob den Kopf und blickte zu den obereren Stockwerken hinauf, sah aber nur geschlossene Läden und mit Gardinen verhangene Fenster. Auf manchen Balkons standen vereinzelte Geranienkästen, deren Blüten durch den Regen einen sinnlichen Schimmer gewannen und dadurch an die geschminkten Lippen einer geschmacklosen Frau erinnerten.
Am Eingang der Praxis hing ein schwarzes Glasschild von diskreter Eleganz mit der silbernen Inschrift: Dr. Wahrhaftig – Dr. Etan – Fachärzte für Frauenheilkunde. Zum tausendstenmal debattierte Fima innerlich mit diesem Schild, wieso es denn nicht auch Fachpraxen für Männerheilkunde gab und was diese schwerfällige Formulierung sollte – die Sprache duldete keine solche Häufung zusammengesetzter Substantive. Doch sofort verspottete er sich selbst wegen des Ausdrucks »die Sprache duldet nicht«, der ihm in jeder Hinsicht banal und absurd erschien. Scham und Schmach erfüllten ihn, als ihm wieder einfiel, daß er beim Nachrichtenhören weniger über den Tod des arabischen Jungen im Flüchtlingslager Jabaliya als über den üblen Gebrauch der Wendung »von einem Plastikgeschoß getötet worden« in Aufruhr geraten war.
Besaß ein Geschoß denn Hände?
Wurde sein eigenes Hirn etwa langsam rissig?
Wieder versammelte er seine Minister zu einer Kabinettssitzung in dem verlotterten Klassenzimmer. Vor die Tür plazierte er einen Wachtposten in Palmach 4 -Manier mit kurzen Hosen, Kefiyah und Strickmütze. Einige Minister setzten sich vor ihn auf den blanken Boden. Andere lehnten an der mit Schautafeln bedeckten Wand. Fima legte ihnen mit knappen, scharfen Worten die Notwendigkeit dar, zwischen »den Gebieten, die wir im Sechstagekrieg erobert haben, und der Wahrung unserer Identität zu wählen«. Gleich darauf, als alle noch in heller Erregung waren, ließ er abstimmen, wobei er gewann, und gab sofort detaillierte Ausführungsbestimmungen.
Vor dem Sieg im Sechstagekrieg war die Lage der Nation weniger gefährlich und destruktiv als heute, grübelte er. Oder vielleicht nicht weniger gefährlich, sondern nur weniger drückend und deprimierend? Fällt es uns leichter, mit der drohenden Vernichtung zu leben, als auf der Anklagebank zu sitzen? Die drohende Vernichtung hat uns Stolz und Gemeinschaftsgefühl verliehen, aber die Anklagebank ruiniert unsere Moral. Doch eigentlich ist es nicht richtig, die Alternative so zu formulieren. Und womöglich ruiniert die Anklagebank nur die Moral der Intelligenz russischer und westlicher Abstammung, während die Masse des Volkes sich gar nicht nach dem Stolz Davids gegenüber Goliat sehnt? Und der Ausdruck »Masse des Volkes« ist doch ein hohles Klischee. Unterdessen ist deine Hose durch den Sturz schlammverschmiert, die Hände, die den Schlamm abwischen wollen, kleben ebenfalls vor Dreck, und es regnet und regnet einem schlankweg auf den Kopf. Jetzt ist es schon fünf nach eins. Er konnte sich anstrengen, wie er wollte, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, irgendwie kam er immer zu spät.
Die Praxis erstreckte sich über zwei miteinander verbundene Privatwohnungen im Erdgeschoß. Die mit verschnörkelten Gittern gesicherten Fenster gingen auf einen kahlen, nassen Jerusalemer Garten hinaus, beschattet von dunklen Pinien, zu deren Füßen hier und da ein paar graue Felsblöcke sprossen. Die Baumkronen rauschten schon beim leichtesten Luftzug. Jetzt im stürmischen Wind mußte Fima an ein entlegenes Dorf in Polen oder vielleicht einer der baltischen Republiken denken, ein Dorf, in dem der Sturm durch die umgebenden Wälder pfeift, über verschneite Felder peitscht, in die Strohdächer der Hütten bläst und die Kirchenglocken zum Schwingen bringt. Und der Wolf heult in der Nähe. Im Kopf hatte er schon eine kleine Geschichte fertig über dieses Dorf, über Nazis, Juden und Partisanen – vielleicht würde er sie heute abend Dimmi erzählen und von ihm dafür einen Marienkäfer im Glas oder ein Raumschiff aus einem Stück Apfelsinenschale erhalten.
Aus dem zweiten Stock perlten Klavier-, Geigen- und Celloklänge der drei ältlichen Musikerinnen, die dort wohnten, Privatstunden gaben und wohl ab und zu in kleinen Sälen zu Gedenktagen, bei der feierlichen Verleihung des Preises für jiddische Literatur oder der Einweihung eines
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