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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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erinnerte er sich, daß die Luft sehr grau und stickig gewesen war, wie vor einem Sturm. Weit entfernt läutete eine Glocke langsam, mit großen Pausen, der Klang in unsichtbaren Schluchten widerhallend. Von einem Glockenschlag zum nächsten herrschte lange Stille. Keine Seele zeigte sich. Nicht einmal ein Vogel. Und keine Spur einer Ortschaft. Wieder hatten sie uns überrascht. Die feindliche Panzerkolonne rollte auf einen schmalen Bergpaß zu, eine Art Einschnitt, den Fima wegaufwärts, am Fuß steiler Anhöhen, entdeckte. Er begriff, daß die Graufärbung der Luft von dem Staub herrührte, den die Ketten aufwirbelten, und hörte nun, dank dieser Erkenntnis, durch das Glockengeläut hindurch auch leises Motorenbrummen. Jetzt wußte er, daß er die Aufgabe hatte, sie am Einschnitt, dort, wo der Weg den Paß kreuzte, abzufangen. Sie mit Reden aufzuhalten, bis die Truppe mobilisiert war und zur Abriegelung der Schlucht eintreffen würde. Er begann mit aller Kraft zu rennen. Er keuchte. Das Blut pochte in den Schläfen. Die Lungen schmerzten. Es stach in den Rippen. Obwohl er sämtliche Muskeln anspannte, kam er kaum vorwärts, trat fast auf der Stelle und suchte dabei krampfhaft nach Worten, die er benutzen könnte, um den Feind aufzuhalten. Er mußte sofort einen Ausdruck, eine Idee, eine Botschaft oder aber etwas Amüsantes finden, Sätze, die die auf ihn zurollende Kolonne veranlassen würden, anzuhalten, Köpfe aus den Panzertürmen zu strecken, ihm zuzuhören. Wenn er sie schon nicht überzeugen konnte, würde er wenigstens Zeit gewinnen. Ohne die es keine Hoffnung gab. Doch da verließ ihn die Kraft, die Beine knickten weg, und der Kopf war bar jeden Gedankens. Kein einziges Wort wollte ihm einfallen. Das Dröhnen der Motoren kam immer näher, schwoll stärker und stärker an, schon hörte man Geschützlärm und Maschinengewehrbellen hinter der Kurve. Und er sah Flammenblitze in einer Rauch- oder Staubwolke, die den Einschnitt füllte, ihm in die Augen drang und in der Kehle brannte. Zu spät. Er würde nicht mehr rechtzeitig kommen. Es gab keine Worte auf der Welt, die das Stampfen des wahnsinnigen Stiers, der da auf ihn zustürmte, hätten bremsen können. In einer Sekunde würde er zermalmt sein. Schlimmer noch als das Grauen war jedoch die Schmach über sein Versagen. Über die Wortlosigkeit. Sein wilder Lauf wurde langsamer, verwandelte sich in mühsames Schlurfen, weil sich ein Gewicht herabgesenkt hatte, das ihm auf die Schultern drückte. Als es ihm gelang, denKopf zu wenden, merkte er, daß ein Kind auf ihm ritt, ihm mit mageren, boshaften Fäusten auf den Kopf trommelte und ihm mit den Knien den Hals abdrückte. Bis er fast erstickte.
    Und weiter schrieb Fima in sein Buch: »Die Bettwäsche riecht schon. Heute muß ein Sack voll zur Wäscherei. Und doch war da was: Geblieben ist eine Sehnsucht nach jenen öden Bergen und diesem sonderbaren, grauen Licht, besonders aber nach dem Glockenklang, der dort in den verlassenen Wadis mit sehr langen Pausen zwischen den einzelnen Anschlägen widerhallte und mich wie aus unmeßlichen Fernen erreichte.«

8.
Meinungsverschiedenheiten über die Frage,
wer die Inder eigentlich sind
    Um zehn Uhr morgens, als er gerade am Fenster stand, um die Regentropfen zu zählen, sah er Baruch Numberg mit dem Taxi ankommen und noch ein wenig mit dem Fahrer reden. Sein Vater war ein gepflegter alter Mann mit Anzug und Fliege und einem scharf geschnittenen weißen Bärtchen, das ihm wie ein moslemischer Krummdolch aus dem Gesicht ragte. Im Alter von zweiundachtzig führte er immer noch souverän die Kosmetikfabrik, die er in den dreißiger Jahren in Jerusalem aufgebaut hatte.
    Er beugte sich zum Wagenfenster und referierte offenbar dem Fahrer – das unbedeckte weiße Haar im Wind wehend, den Hut in der Linken und seinen geschnitzten Stock mit Silberknauf in der Rechten. Fima wußte, daß der Alte weder feilschte noch auf Wechselgeld wartete, sondern eine unterwegs begonnene Geschichte zu Ende führte. Seit nunmehr fünfzig Jahren beglückte er die Jerusalemer Taxifahrer mit einem fortlaufenden Seminar über chassidische Legenden und fromme Geschichten. Er war ein eingefleischter Geschichtenerzähler. Dabei hatte er die feste Angewohnheit, jede Geschichte auszulegen und ihre Moral aufzuzeigen. Wenn er einen Witz erzählte, pflegte er, als Nachtisch, zu erklären, wo die Pointe steckte. Und gelegentlich erläuterte er noch zusätzlich, was die scheinbare und was die wahre Pointe

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