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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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war. Seine Witzinterpretation weckte schallendes Gelächter bei seinen Zuhörern, was ihn wiederum ermunterte, weitere Anekdoten zum besten zu geben und sie ebenfalls zu erläutern. Er war überzeugt, daß aller Welt die Pointen entgingen und er die Pflicht hatte,ihnen die Augen zu öffnen. In seiner Jugend war er vor den Bolschewiken aus Charkow geflohen und im Anschluß an ein Chemiestudium in Prag nach Jerusalem gekommen, wo er in einem kleinen Heimlabor Lippenstifte und Puder herzustellen begann – und damit den Grundstein für die florierende Kosmetikfabrik legte. Ein geschwätziger alter Geck war er. In den Jahrzehnten seiner Witwerschaft umgaben ihn ständig allerlei Freundinnen und Begleiterinnen. In Jerusalem herrschte allgemein die Auffassung, die Frauen, die sich um ihn scharten, seien nur auf sein Geld aus. Fima war anderer Meinung: Er hielt den Vater trotz seines lauten Auftretens für einen guten, großzügigen Menschen. Über die Jahre hinweg unterstützte der Alte mit seinem Geld jede Sache, die ihm richtig oder zu Herzen gehend erschien. Er gehörte einer Vielzahl Komitees, Kommissionen, Vereinen, Gruppen und Gesellschaften an. Beteiligte sich regelmäßig an öffentlichen Spendenaktionen für Obdachlose, Einwandereraufnahme, Kranke, die komplizierte Operationen im Ausland brauchten, Bodenerwerb in den Gebieten, Herausgabe von Gedenkbänden, Erhaltung historischer Stätten, Einrichtung von Heimen für verwahrloste Kinder und von Zufluchtsstätten für Frauen in Not. Setzte sich für die Unterstützung mittelloser Künstler, die Abschaffung von Tierversuchen, die Beschaffung von Rollstühlen und die Vermeidung von Umweltverschmutzung ein. Sah keinen Widerspruch darin, sowohl für die Verstärkung der traditionellen Erziehung als auch für das Komitee gegen religiösen Zwang zu spenden. Leistete monatliche Beihilfen an Studenten aus dem Kreis der nationalen Minderheiten, an Opfer von Gewaltverbrechen und auch für die Resozialisierung der Täter. In jede dieser Initiativen investierte der Vater bescheidene Summen, aber alle zusammen verschlangen wohl rund die Hälfte des Gewinns, den die Kosmetikfabrik abwarf, und einen Großteil seiner Zeit. Außerdem hatte er eine starke Leidenschaft, fast schon Besessenheit für alles, was mit Vertragsabschlüssen und der Beachtung des Kleingedruckten zu tun hatte: Wenn Chemikalien eingekauft oder gebrauchtes Gerät verkauft werden mußte, setzte er eine ganze Batterie von Rechtsanwälten, Beratern und Rechnungsprüfern ein, um jedes Schlupfloch von vornherein zu stopfen. Juristische Urkunden, notarielle Zahlungsbefehle, paraphierte Vertragsentwürfe – all das verursachte ihm ein spielerisches Vergnügen, das fast an künstlerische Erregung grenzte.
    Seine Freizeit verlebte er in Damengesellschaft. Auch jetzt, da er die Achtzig überschritten hatte, saß er noch gern im Café. Sommer wie Wintertrug er einen guten Anzug mit Fliege, ein weißseidenes Taschentuchdreieck lugte ihm wie eine Schneeflocke am heißen Sommertag aus der Brusttasche, an den Hemdsärmeln prangten silberne Manschettenknöpfe, am kleinen Finger funkelte ein Ring mit Stein, und der weiße Bart bog sich wie ein tadelnder Finger nach vorn – so pflegte er dazusitzen, den geschnitzten Spazierstock mit Silberknauf zwischen den Knien, den Hut vor sich auf dem Tisch: ein rosiger, geschniegelter, strahlender Greis, stets in Begleitung einer schmucken Geschiedenen oder einer guterhaltenen Witwe – sämtlich kultivierte europäische Damen mit feinen Umgangsformen zwischen fünfundfünfzig und sechzig. Manchmal setzte er sich mit zwei oder drei von ihnen an seinen Stammtisch im Café. Bestellte ihnen Strudel und Espresso, während er unweigerlich ein Glas erstklassigen Likör und einen Teller mit Früchten der Saison vor sich hatte.
    Das Taxi fuhr ab, und der Alte winkte ihm zum Abschied wie stets mit dem Hut nach. In seiner weichen, rührseligen Art war für ihn jeder Abschied der letzte. Fima ging ihm die Treppe hinunter entgegen. Von oben meinte er ihn ein verhaltenes chassidisches ja-wa-wam vor sich hinsummen zu hören. Wenn er allein war und gelegentlich auch, wenn man mit ihm sprach, summte er pausenlos. Fima fragte sich zuweilen, ob sein Vater diese Töne selbst im Schlaf produzierte: als entspränge das Summen einer inneren heißen Quelle, die sprudelnd heraustrat. Als sei der Körper zu eng für die Melodie. Oder als habe das Alter ihm winzige Risse beigebracht, durch die die Weisen aus ihm

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