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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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bewahren.
    »Voller Schuldgefühle kehre ich aus Amsterdam zurück, unterdrücke nur mit Mühe den Drang, ihm zu beichten, aber er hegt keinerlei Verdacht. Im Gegenteil. Über die Jahre hatten wir uns angewöhnt, manchmal, nachdem die Kinder eingeschlafen waren, im Bett zu liegen und gemeinsam Broschüren zu lesen, aus denen wir lernten, Dinge zu tun, die wir vorher nicht gekannt hatten. Entgegenkommen, Rücksichtnahme und Zurückstecken verliehen unserem Leben einen ruhigen Braunton. Zugegeben, viele Gesprächsthemen gibt es nicht. Schließlich interessiere ich mich nicht so sehr für Orthopädie. Aber das Schweigen bedrückt uns nie. Wir können einen ganzen Abend dasitzen und lesen. Gemeinsam Musik hören. Fernsehen. Gelegentlich trinken wir sogar ein Gläschen vor dem Schlafengehen. Manchmal schlafe ich ein und wache eine Stunde später wieder auf, weil er keinen Schlaf findet und geistesabwesend auf den Bettkastenam Kopfende trommelt. Ich bitte ihn aufzuhören, und er entschuldigt sich und läßt es, worauf ich wieder einschlafe und auch er einschläft. Oder so schien es mir. Wir erinnern einander daran, auf die Figur zu achten, da wir beide leicht zur Korpulenz neigen. Bin ich ein bißchen dick, Efraim? Wirklich nicht? Und inzwischen haben wir alle möglichen elektrischen Haushaltsgeräte angeschafft. Beschäftigen drei Vormittage pro Woche eine Hausgehilfin. Besuchen seine und meine Eltern, die wir alle vier im selben Altersheim untergebracht haben. Zum Ärztekongreß in Kanada fährt er ohne mich, aber zur Orthopädenkonferenz in Frankfurt bin ich mit eingeladen. Dort gehen wir uns einen Abend sogar mal eine Stripteaseshow angucken. Was mich ziemlich angeekelt hat, wobei ich jedoch heute glaube, daß es ein Fehler war, es ihm zu sagen. Ich hätte schweigen sollen. Ehrlich gesagt, Efraim, mag ich gar nicht daran denken, was Sie von mir halten werden, wenn ich Sie bitte, mir noch ein Gläschen zu bestellen. Noch eins und fertig. Es fällt mir schwer. Und Sie hören mir zu wie ein Engel. Dann, vor sechs Jahren, sind wir endlich in die selbstgeplante Villa umgezogen, nach Mewasseret Jeruschalaim, und sie ist fast genauso geworden, wie wir sie uns erträumt hatten, mit einem separaten Flügel für die Kinder, mit einem schrägwinkligen Schlafzimmer unterm Dach wie in einem Chalet in den Alpen.«
    Ein Engel mit der Erektion eines Nashorns, grinste Fima innerlich und spürte erneut, wie mit dem Mitleid die Begierde in ihm erwachte und die Begierde wiederum Scham, Wut und Schadenfreude über sich selbst nach sich zog. Und weil er an Nashörner dachte, fiel ihm die starre Haltung der Dinosaurier-Eidechse ein, die ihm am Morgen ein Kopfschütteln entgegengebracht hatte. Dann sann er ein wenig über Ionescos Nashörner nach, wobei er sich zwar vor oberflächlichen Vergleichen in acht nahm, aber trotzdem grinsen mußte, weil Rechtsanwalt Prag ihn weit mehr an einen Büffel als an ein Nashorn erinnerte. Nun fragte er: »Sagen Sie, Annette, sind Sie überhaupt nicht hungrig? Ich verschlinge hier ein belegtes Brot nach dem anderen, und Sie haben noch nicht mal Kuchen angerührt. Vielleicht schauen wir einen Augenblick in die Speisekarte?«
    Doch Annette zündete sich, als habe sie gar nichts gehört, eine neue Zigarette an. Fima schob ihr den Aschenbecher, den der Kellner geleert, und den Wodka, den er ihr gebracht hatte, näher hin. »Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?«
    »Absolut nicht«, sagte Annette, »ich fühle mich so wohl mit Ihnen. Erstgestern sind wir uns begegnet, und es ist, als hätte ich einen Bruder gefunden.«
    Fima hätte beinah den Lieblingsausdruck ihres Mannes benutzt und asoi gesagt, hielt sich aber zurück, strich ihr wie unbewußt über die Wange und bat: »Machen Sie weiter, Annette. Sie hatten von den Alpen gesprochen.«
    »Ich bin dumm gewesen. Blind. Glaubte, das neue Haus sei die Verkörperung des Glücks. Des Seelenglücks natürlich. Wie faszinierte uns das Leben außerhalb der Stadt! Die Landschaft, die Stille. Gegen Abend traten wir hinaus, um nachzumessen, wie hoch die Setzlinge gediehen waren, ehe wir vom Garten auf den Balkon hinaufgingen, um im Sitzen zuzuschauen, wie die Berge dunkel wurden. Fast ohne zu sprechen und doch in Freundschaft. Oder so schien es mir. Wie zwei alte Freunde, die schon keine Worte mehr brauchen, wenn Sie das verstehen. Jetzt glaube ich, daß auch das ein Irrtum war. Daß er mit seinem Klopfen aufs Balkongitter etwas auszudrücken versuchte, vielleicht wie mit

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