Der dritte Zustand
Fima, daß Uri noch in Rom sein möge. Er rief in Ninas Anwaltsbüro an, wartete geduldig am Apparat, bis ihre Sekretärin ihn mit der zigarettenversengten Stimme verband, die sagte, ja, Fima, aber faß dich kurz, wir sitzen hier in Verhandlungen. Und beschwatzte sie, mit ihm in die zweite Abendvorstellung ins Orion zu gehen, um sich die französische Komödie mit Jean Gabin anzugucken: Vorgestern nacht war ich wirklich ein Esel, sagte er, aber du wirst sehen, daß ich mich heute nacht gut benehme. Das versprech’ ich.
»Heute habe ich zufällig gerade einen langen Tag«, sagte Nina. »Aber ruf zwischen sieben und acht noch mal hier im Büro an, dann sehen wir, wie’s steht. Und zähl bei Gelegenheit mal, wie viele Socken du momentan an den Füßen hast, Fima.«
Fima war nicht etwa gekränkt, sondern begann Nina die Hauptpunkte seines neuen Artikels über den Preis der Moral und den Preis des Verzichts auf Moral sowie die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »Preis« für Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen darzulegen. Nina schnitt ihm das Wort ab: Im Augenblick findet bei mir zufällig eine Verhandlung statt, das Zimmer ist voll mit Menschen, wir unterhalten uns bei anderer Gelegenheit. Er hätte sie gern gefragt, ob es bei der Verhandlung um ihren ultraorthodoxen Sexshop ging, verzichtete aber rücksichtsvoll, verabschiedete sich und hielt fast eine Viertelstunde durch, ehe er Zwi Kropotkin anläutete und auch ihm von der nachts verfaßten Replik erzählte. Inständig hoffte er, eine angenehme Telefondebatte auszulösen. Zwi in vier, fünf Zügen Matt zu setzen. Aber Zwi war auf dem Weg zu einer Vorlesung, wirklich schon spät dran, laß uns darüber reden, Fima, sobald wir deine neue Epistel in der Zeitung gelesen haben.
Einen Augenblick erwog er, seinen Vater anzurufen, ihm die Fakten über Indien vorzulesen, ihn zu zwingen, seinen Fehler einzugestehen, und ihm auch zu sagen, daß er hier einen Manschettenknopf verloren habe.Es sei denn, das Glühwürmchen war doch ein Ohrring von Annette. Aber am Ende hielt er es für besser, auf das Telefonat mit Baruch zu verzichten, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.
Da es niemanden mehr anzurufen gab, stand Fima ein paar Minuten in der Küche, sammelte einzeln die Frühstückskrümel zusammen, um die Sauberkeit zu wahren, die er heute nacht so tatkräftig geschaffen hatte, und freute sich an dem Metallglanz des neuen Wasserkessels. Ein wenig Willenskraft, dachte er, ein wenig Begeisterung, ein wenig Ausdauer – es ist für den Menschen gar nicht so schwer, ein neues Kapitel anzufangen. Als er zu diesem Schluß gelangt war, rief er Jael an. Hoffte inständig, es möge nicht Ted antworten. Und vertraute auf eine spontane Eingebung, die ihm die Worte in den Mund legen werde.
»Guck mal, Telepathie«, rief Jael, »gerade eben hab’ ich zu Teddy gesagt, er soll dich anrufen. Du bist uns vielleicht um eine halbe Minute zuvorgekommen. Die Sache ist die: Teddy und ich fahren gleich zu einer Unterredung in die Luftfahrtindustrie und kommen erst abends zurück. Ich weiß nicht, um welche Uhrzeit. Die Nachbarin holt Dimmi von der Schule ab und versorgt ihn den ganzen Tag. Bist du so nett und nimmst ihn ihr ab, sobald du von der Arbeit kommst? Legst ihn schlafen und paßt auf ihn auf, bis wir zurück sind? Die Nachbarin gibt ihm schon zu essen. Und den Schlüssel hat er in der Tasche. Was sollten wir ohne dich wohl anfangen? Und entschuldige, daß ich auflege, weil Teddy schon von unten her raufschreit, daß sie da sind, uns abzuholen. Du bist großartig. Ich eile. Tausend Dank und auf Wiedersehen heute abend spät. Vor dem Schlafen kannst du ihm ein halbes Valium geben, falls er nicht einschläft. Und nimm dir aus dem Kühlschrank, was du möchtest.«
Die Worte »auf Wiedersehen heute abend spät« schloß Fima ins Herz, als bärgen sie eine geheime Verheißung. Einen Augenblick später verspottete er sich selber wegen dieses freudigen Gefühls und ging daran, den verstaubten Zeitungs- und Zeitschriftenhaufen am Bettende ein wenig zu ordnen. Sein Blick blieb jedoch an einem nicht gerade neuen Artikel von Jehoschafat Harkabi hängen, worauf er sich nachdenklich in die Lektüre über die Lehren aus dem Fehlschlag des Aufstands gegen die Römer vertiefte. Er hielt die Analogie mit unserer Zeit für präzise und eindringlich, obwohl sie ihm in einigen Aspekten zu einfach erschien. Später, im Bus auf dem Weg zur Arbeit, sah er auf der letzten Sitzreihe eine
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