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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Buchstaben als Zahlen. Telefon. Garderobe mit Schirmständer. Zeitungskorb. Ein paar Zeitschriften auf dem Tisch. Eine blaue Werbebroschüre: »Osteoporose – beschleunigter Knochenschwund. Ratgeber für die Frau: Welche Frauen sind besonders gefährdet? Gruppen mit erhöhtem Risiko: Magere Frauen. Frauen mit leichtem Knochenbau. Frauen, denen die Eierstöcke entfernt worden sind. Frauen, die Bestrahlungen erhalten haben und kein Östrogen mehr produzieren. Frauen, die niemals schwanger waren. Frauen, in deren Familie die Krankheit aufgetreten ist. Frauen, die eine kalziumarme Ernährung zu sich nehmen. Raucherinnen. Frauen, die sich nicht körperlich betätigen. Oder viel Alkohol trinken. Oder eine erhöhte Schilddrüsenproduktion aufweisen.«
    Er las ein wenig in einem anderen, lila Informationsblatt, das er vor sich auf dem Tisch fand: »Mein kleines Geheimnis ... Wechseljahre. Ausgleichende Hormonbehandlung. Was sind die Wechseljahre? Was sind die weiblichen Geschlechtshormone, und wo werden sie produziert? Was sind die typischen Begleiterscheinungen der Wechseljahre? Welche Veränderungen sind aufgrund der nachlassenden Produktion von Geschlechtshormonen zu erwarten? Östrogenkurve gegenüber Progesteronkurve. Was sind Hitzewallungen, und wann ist mit ihrem Auftreten zu rechnen? Welche Verbindung besteht zwischen Östrogenen, Blutfettgehalt und Herzkrankheiten?Läßt sich die emotionale Einstellung zu den in dieser Lebensphase auftretenden Körpervorgängen verbessern?« Fima begnügte sich mit der Lektüre der Kapitelüberschriften. Tränen des Mitleids überschwemmten plötzlich seine Augen, nicht Mitleid mit dieser oder jener Frau – Nina, Jael, Annette, Tamar –, sondern mit der Weiblichkeit an sich. Die Trennung der Menschen in zwei verschiedene Geschlechter erschien ihm in diesem Augenblick als eine grausame Tat und ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht. Dabei fühlte er sich irgendwie an diesem Unrecht beteiligt und daher auch ein bißchen mitschuldig, weil er zuweilen unwillkürlich von dessen Folgen profitierte. Dann grübelte er ein wenig über die Formulierung nach: Nach seiner Ansicht hätte man besser durchgehend »welches« – nicht »was« – geschrieben. Obwohl er sich dessen nicht völlig sicher war. Wer diese Broschüren hier ausgelegt hatte, mußte dummerweise nicht berücksichtigt haben, daß zuweilen auch Männer, sogar fromme, in die Praxis kamen – bei Fruchtbarkeitsproblemen und so weiter. Und solche Hefte konnten sie doch in Verlegenheit bringen. Ja sogar die wartenden Frauen, die vielleicht den Mann beobachteten, der da saß und dieses Material studierte. Tatsächlich hatte er, fiel ihm ein, diese Broschüren hier selber ausgelegt, aber noch nie einen Blick hineingeworfen. Und trotzdem, trotz der Peinlichkeit, trotz der Taktlosigkeit, prangten an den Wänden und auf den Regalen Bilder, Ziergegenstände, Dekorationen mit den Widmungen dankbarer Patientinnen. Die das Kärtchen nur mit ihren Initialen oder mit dem Vornamen nebst Anfangsbuchstaben des Nachnamens signiert hatten, wie etwa der Kupferteller von Carmela L. »In ewiger Dankbarkeit dem ausgezeichneten, hingebungsvollen Team«. Fima hatte diese Carmela nicht vergessen, weil ihm eines Tages zu Ohren gekommen war, daß sie Selbstmord begangen hatte. Obwohl sie ihm damals vergnügt und tapfer im Stil der Palmach gewirkt hatte. Der Bürgermeister von Jerusalem müßte die Verwendung des Begriffs »ewig« für gesetzwidrig erklären. Jedenfalls für den Jerusalemer Bereich.
    Er begann in Gedanken die Landkarte Afrikas von Nord nach Süd, von Ägypten bis Namibia durchzukämmen, versuchte es dann von Madagaskar im Osten bis Mauretanien im Westen, auf der Fahndung nach dem Staat, der die Lösung von Tamars Kreuzworträtsel aufhielt. Dabei malte er sich Dr. Gad Etan, diesen katzenhaften, hochmütigen Wikinger in der Gestalt eines armen, ungeliebten Jungen aus, der mutterseelenallein durch die afrikanischen Dschungel und Wüsten streift. Und fand keine Antwort.Fragte sich aber: Werden die nach uns, Joeser und seine Generation, die, die in hundert Jahren in Jerusalem leben, sich ebenfalls mit der Lösung von Kreuzworträtseln beschäftigen? Unter den Nöten enttäuschter Liebe leiden? Sich in den Hemdknöpfen irren? Zum Östrogenabbau verurteilt sein? Werden auch in hundert Jahren noch verlassene Kinder mutterseelenallein am Äquator herumwandern? Fima spürte, wie sich ihm vor Kummer das Herz verkrampfte. Ja vor lauter Wehmut war er

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