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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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drauf und dran, Tamar in die Arme zu schließen. Ihr breites Gesicht an seine Brust zu drücken. Ihr schönes Haar zu streicheln, das zu einem züchtigen kleinen Knoten im Nacken zusammengefaßt war, wie bei einer Pionierin der vergangenen Generation. Wenn er sie bitten würde, hier und jetzt, auf der Couch im Aufwachraum, mit ihm zu schlafen, würde sie sicher vor Schreck erröten und erblassen, ihn aber letzten Endes nicht abweisen. Schließlich waren sie doch mindestens bis vier Uhr allein hier. Er könnte sie mit Genüssen überhäufen, die sie, so vermutete er, noch nie im Leben erfahren hatte. Könnte sie zum Lachen, Flehen, Schluchzen, amourösen Tuscheln, sanften Aufstöhnen bringen, könnte ihr Töne entlocken, die auch ihm sein süßestes Vergnügen – die Freude am Freudeschenken – bereiten würden. Und wenn sie nicht schön war – was machte das schon aus? Bildhübsche Frauen erregten bei ihm nichts als Niedergeschlagenheit im Verbund mit Unterwürfigkeit und Selbstverleugnung. Nur die Verletzten und die Zurückgewiesenen entzündeten den Funken der Gutmütigkeit, aus dem stets seine Leidenschaft entbrannte. Aber wenn sie nun nicht geschützt war? Wenn sie ausgerechnet hier in dieser Ausschabungshölle schwanger wurde?
    Anstatt Liebe bot Fima ihr eine weitere Orange an, ohne erst nachzuprüfen, ob überhaupt noch eine in der Thekenschublade vorhanden war. Und verblüffte sie mit der Aussage, daß ihr Rock ihm gefiele, Hellblau belebe sie sehr, sie müsse diese Farbe öfter tragen. Und auch ihr Haar finde er wunderbar.
    »Hör auf, Fima«, sagte Tamar. »Das ist nicht zum Lachen.«
    »Schau«, sagte Fima, »vielleicht ist das wie bei einem Fisch beispielsweise: Erst wenn man ihn zum ersten Mal aus dem Wasser zieht, hat er überhaupt eine Chance zu begreifen, daß sich sein ganzes Leben im Wasser abspielt. Egal. Du sollst bloß wissen, daß ich nicht gescherzt habe. Ich meine genau, was ich gesagt habe, bezüglich Hellblau und deinem Haar.«
    »Du bist eigentlich recht lieb«, erwiderte Tamar zögernd, »sehr gebildet, Dichter und alles. Ein guter Mensch. Bloß eben – kindlich. Kaum zu glauben, was für ein kleiner Junge du bist. Manchmal hab’ ich morgens Lust, einfach zu kommen und dich selber zu rasieren, damit du dir nicht so in die Wangen schneidest und ins Kinn. Schau, wie du dich wieder verletzt hast. Wie ein Baby.«
    Dann saßen sie sich gegenüber und redeten fast nichts. Sie konzentrierte sich auf die Lösung ihres Kreuzworträtsels und er – auf ein altes Heft der Zeitschrift Für die Frau , das er aus dem Zeitungsständer gezogen hatte, oder genauer auf die Beichte eines ehemaligen Callgirls, die einen gutaussehenden Millionär aus Kanada geheiratet, sich aber wieder von ihm hatte scheiden lassen, um sich einer Gruppe Brazlawer Chassidim in Safed anzuschließen.
    Am Ende des Schweigens sagte Tamar: »Eben fällt mir ein: Gad hat gebeten, wir sollten in seinem Zimmer Staub wischen. Und Wahrhaftig hat gesagt, er möchte Zangen und Spekula desinfiziert und Handtücher und Kittel ausgekocht haben. Aber ich habe keine Lust aufzustehen. Erst löse ich dieses Kreuzworträtsel zu Ende.«
    »Laß«, sagte Fima enthusiastisch, »bleib hier sitzen wie eine Königin. Ich mach’ alles. Du wirst sehen, daß es was wird.«
    Damit stand er auf und wandte sich, ein Staubtuch in der Hand, Dr. Etans Zimmer zu. Zuerst wechselte er eine Rolle Papierlaken aus, die ihm angenehm rauh an den Fingerspitzen kribbelten. Räumte ein wenig den Arzneischrank auf und dachte über die Anekdote seines Vaters bezüglich der Länge und Breite von Eisenbahngleisen nach. Wobei er nun gewisse Sympathie für den israelischen Bahndirektor empfand, der vor seinem amerikanischen Kollegen nicht zurückgesteckt, sondern ihm eine schlagfertige Antwort verpaßt hatte, die nur bei oberflächlicher Betrachtung ulkig erscheinen konnte: Gerade die Haltung des Amerikaners war wirklich lachhaft, denn es steckte ja kein logischer Sinn hinter der angedeuteten These, die Länge der Rede eines jeden Vertreters bei der Bahndirektorenkonferenz müsse in direktem Verhältnis zur Schienenlänge seines Landes stehen. Das war doch brutale Kraftmeierei – ebenso unmoralisch wie unlogisch. Während Fima in Gedanken noch diese Schlußfolgerung überprüfte und bestätigte, versuchte er unwillkürlich, sich mit dem Blutdruckmesser, der auf dem Arzttisch stand, selbst den Blutdruck zu messen. Vielleicht weil er vorher scherzhaft gesagt hatte, Gad Etan

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