Der dritte Zustand
Orientalin schluchzen, während ihre Tochter, ein kleines Mädchen von vielleicht siebenoder acht Jahren, sie immer wieder mit den Worten tröstete: »Er hat’s nicht mit Absicht getan.« In diesem Moment kam es Fima vor, als bärgen die Worte »Absicht«, »böse Absicht«, »gute Absicht«, »unabsichtlich« eines der Geheimnisse des Daseins: Liebe und Tod, Einsamkeit und Begierde und Neid, die Wunder des Lichts und der Wälder, Gebirge, Steppe und Wasser – ist deren Vorhandensein nun absichtlich oder nicht? Steckt Absicht hinter der grundlegenden Ähnlichkeit zwischen dir und dem Schleuderschwanz, zwischen dem Weinblatt und der Form deiner Hand? Liegt Absicht darin, daß dein Leben von Tag zu Tag zwischen ausgebrannten Kesseln, toten Kakerlaken und den Lehren des großen Aufstands verrinnt? Das Wort »Verrinnen«, auf das er vor Jahren einmal in Pascals Pensées gestoßen war, erschien ihm grausam und treffend, als habe Pascal es gewählt, nachdem er sein, Fimas, Leben gründlich studiert hatte, so wie er selbst Joesers Leben verfolgte, obwohl noch nicht einmal dessen Eltern geboren waren. Und was meint der verrunzelte sephardische Senior, der auf dem Korbschemel an der Tür seines Kurzwarengeschäfts döst, über die Wette, die Pascal uns vorschlägt? Es ist doch eine Wette, bei der der Wettende, laut Veranstalter, auf keinen Fall einen Verlust riskiert. Aber läßt sich eine Wette, bei der man nur gewinnen kann, noch als Wette bezeichnen? Ja übrigens, wie geruht der Herr Hiroshima zu rechtfertigen? Auschwitz? Den Tod des arabischen Jungen? Die Opferung Ismaels und Isaaks? Das Sterben Trotzkis? Ich werde sein, der ich sein werde? Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Der Herr schweigt. Der Herr schlummert. Der Herr schmunzelt. Der Herr amüsiert sich. Amen. Inzwischen hatte Fima seine Haltestelle verpaßt und stieg an der falschen aus dem Bus. Trotzdem vergaß er nicht, sich wie gewohnt von dem Fahrer zu verabschieden mit den Worten: Danke und Schalom.
In der Praxis fand er Tamar Greenwich allein vor. Die beiden Ärzte waren zu irgendeiner Auskunft ins Einkommenssteueramt bestellt und würden vielleicht gegen vier zurück sein. »Gestern, als du nicht zur Arbeit gekommen bist, war hier ein völlig verrückter Tag«, sagte Tamar. »Und heute nun, sieh bloß diese Ruhe. Außer Telefon beantworten, haben wir nichts zu tun. Die Orgie kann beginnen. Nur ist dein Hemd nicht richtig zugeknöpft. Du hast einen Knopf übersprungen. Sag mal, Fima, was ist das deiner Ansicht nach: ein Fluß in Osteuropa mit drei Buchstaben, der mit ›B‹ anfängt?«
Sie saß auf seinem Stuhl vor dem Aufnahmeschalter, über ein Rätselheftgebeugt, die Schultern kantig und hart wie die eines alten Oberfeldwebels, der Körper zu stabil, das Gesicht offen und gut und das herrliche Haar seidigweich und frisch gewaschen. Jedes sichtbare Stück Haut war mit Sommersprossen übersät. Gewiß kletterten sie auch an den verborgenen Stellen übereinander. Die seltene Pigmenteskapade, bei der ein Auge grüne und das andere braune Farbe abgekriegt hatte, erregte bei ihm jetzt nicht Spott, sondern Staunen und sogar eine gewisse Ehrfurcht: Er selber hätte mit einem Ohr seiner Mutter und einem seines Vaters geboren werden können. Hätte aus den Tiefen der Evolution beispielsweise den Schwanz des Schleuderschwanzes erben können. Oder die Fühler des Ungeziefers. Kafkas Geschichte über Gregor Samsa, der eines Morgens erwachte und sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt fand, erschien Fima in diesem Augenblick weder als Fabel noch als Sinnbild, sondern als greifbare Möglichkeit. Tamar kannte diese Geschichte nicht, erinnerte sich aber verschwommen, Kafka sei ein armer Jugoslawe gewesen, der gegen die Bürokratie zu Felde gezogen und dabei umgekommen sei. Fima zögerte nicht, ihr Kafkas Leben und Liebesaffären zu schildern. Als er merkte, daß es ihm gelungen war, ihre Neugier zu fesseln, erzählte er ihr auch noch kurz den Inhalt der Verwandlung. Und erklärte ihr, der hebräische Titel Hagilgul sei keine richtige Übersetzung des Begriffs Verwandlung oder Metamorphose. Scheiterte jedoch bei dem Versuch, zu erläutern, worin der Unterschied lag und wie man eigentlich übersetzen solle.
Ohne den Kopf vom Kreuzworträtsel zu heben, sagte Tamar: »Aber was wollte er damit sagen? Daß der Vater ein kleiner Mörder war? Vielleicht hat er einen lustigen Einakter schreiben wollen, obwohl ich das überhaupt nicht lustig finde. Ich stecke
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