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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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die Schule, den Nachmittag bei der Nachbarin, Müdigkeit, Bauchweh oder das amerikanische Raumfahrtprogramm befragte – er holte nicht mehr aus ihm heraus als die Worte: »Genug. Hör doch auf.« Konnte so etwa eine beginnende Angina aussehen? Lungenentzündung? Gehirnhautentzündung? Fima zwängte sich auch in den Sessel, wodurch er den mageren Challenger veranlaßte, sich noch tiefer in seine Ecke zu drücken, legte ihm den Arm um die schlaffen Schultern und sagte bittend: »Verrat mir, was passiert ist.«
    »Nix«, erwiderte Dimmi.
    »Was tut dir weh?«
    »Nix.«
    »Möchtest du ein bißchen mit mir rumtoben? Möchtest du schlafen gehen? Deine Mutter hat gesagt, ich soll dir eine halbe Valium geben. Willst du was vorgelesen bekommen? Eine Geschichte?«
    »Haste schon mal gefragt.«
    Fima war tief betroffen: etwas Schlimmes, Ernstes, womöglich gar Gefährliches spielte sich vor seinen Augen ab, und er fand keinen Rat. Was würde Teddy an seiner Stelle unternehmen? Er fuhr mit den Fingern durch das weißblonde Kinderhaar und murmelte: »Aber man sieht doch, daß dir nicht gut ist. Wo liegt bei euch dieses Valium? Sag mal?«
    Dimmi, von dem Streicheln sichtlich abgestoßen, entzog sich wie eine im Räkeln gestörte Katze, tappte weichen Schritts zum gegenüberstehenden Sessel und vergrub sich dort unter drei oder vier Kissen, bis nur noch Kopf und Schuhe zu sehen waren. Seine Augen blinzelten weiter unaufhörlich hinter der dicken Brille.
    Fima, dessen Sorge sich schon in tiefen Kummer, gemischt mit aufkeimendem Ärger, verwandelt hatte, sagte: »Ich ruf einen Arzt. Aber vorher messen wir mal Fieber. Wo liegt euer Thermometer?«
    »Laß«, sagte Dimmi. »mach dich doch nicht zum Clown. Stell lieber die Nachrichten an.«
    Wie geohrfeigt schoß Fima verwirrt und wütend hoch, stürzte sich auf den Fernseher und versuchte ihn mit dem falschen Knopf einzuschalten. Doch auf einmal – in jäher Erkenntnis, daß man ihn zum Narren hielt – brüllte er, seine Unterwürfigkeit bereuend, den Jungen an: »Entweder sagst du mir innerhalb von sechzig Sekunden, was los ist, oder ich geh’ und laß dich hier allein!«
    »Geh«, willigte Dimmi ein.
    »Also gut«, quetschte Fima hervor, bemüht, Teds kühle Bestimmtheit und beinah auch seinen Akzent zu imitieren, »ich gehe. Gut. Aber vorher hast du auf die Uhr genau vier Minuten, fertig zu sein. Im Bett. Und ohne irgendwelche Mätzchen. Zähneputzen, Milchtrinken, Pyjama, Valium und alles. Genug mit diesem Theater.«
    »Das Theater machst doch du hier«, sagte Dimmi.
    Fima verließ den Raum. Fand den Weg zu Teds Arbeitszimmer. Dabei dachte er keinen Augenblick ernstlich daran, wegzugehen und ein krankes Kind allein zu Hause zu lassen. Andererseits hatte er keine Ahnung, wie er von seinem Ultimatum wieder loskam. Also setzte er sich, ohne Licht anzuschalten, auf Teddys Polsterstuhl vor den Computerbildschirm und verlangte von sich selber, vernünftig nachzudenken. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Kind war auf dem besten Wege, krank zu werden, und man mußte sofort handeln, oder der Bengel ärgerte ihn absichtlich,und er selber ging törichterweise darauf ein und machte sich tatsächlich zum Clown. Plötzlich überkam ihn Mitleid mit dem blassen, gepeinigten Challenger. Auch sich selber bemitleidete er ein wenig: Nicht einmal eine Telefonnummer hatten sie ihm hinterlassen. Sicher amüsieren sie sich in Tel Aviv, machen sich ein feines Leben in irgendeinem exotischen Restaurant oder in einem Nachtklub und haben uns schlichtweg vergessen. Und wenn nun ein Unglück passiert? Wie soll ich sie dann finden? Wenn er was verschluckt hat? Sich einen gefährlichen Virus zugezogen hat? Blinddarmentzündung? Den Bazillus der Kinderlähmung? Und womöglich ist das Unglück gerade den Eltern zugestoßen? Ein Verkehrsunfall auf dem Weg nach Jerusalem? Oder ein Terroranschlag?
    Fima beschloß, die Nachbarin von unten zu alarmieren.
    Beim näheren Nachdenken wußte er jedoch nicht recht, was er ihr sagen sollte, und fürchtete sich lächerlich zu machen.
    Niedergeschlagen kehrte er daher ins Wohnzimmer zurück und sagte flehentlich: »Bist du böse auf mich, Dimmi? Warum tust du mir das an?«
    Ein trauriges Lächeln, irgendwie alt und müde, huschte dem Jungen über die Lippen, ehe er sachlich feststellte: »Du nervst mich.«
    »Ja dann«, sagte Fima, der nur mühsam eine neue Zorneswelle und die unbändige Lust, diesem verschlagenen, frechen Bengel eine kleine Ohrfeige zu versetzen,

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