Der dritte Zustand
war er sich dessen nicht mehr sicher: Es mochte sich auch nur um eine leichte Erkältung handeln. Oder der Vater hatte vielleicht bloß eine chassidische Weise vor sich hingesummt. Womöglich war das Pfeifen auf eine Störung in der Telefonleitung zurückzuführen? Sämtliche Einrichtungen dieses Staates brechen zusammen, und keinen kümmert es. Auch das ist eine mittelbare Folge unserer Manie mit den Gebieten. Die Ironie dabei ist, daß der künftige Historiker einmal feststellen wird, daß Abd el-Nasser uns im Sechstagekrieg doch besiegt hat. Unser Sieg wird uns zum Verhängnis. Der messianische Geist, den der Zionismus in die Flasche gebannt hat, ist mit dem Schofarblasen an der Westmauer wieder ausgebrochen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ja wenn man diesen Gedanken erbarmungslos zu Ende denkt, ohne selbst vor der monströsesten Wahrheit zurückzuschrecken, gelangt man vielleicht zu dem Schluß, daß nicht Abd el-Nasser, sondern Hitler das letzte Lachen hat. Schließlich vernichtet er weiter das jüdische Volk und läßt nicht von uns ab. Alles, was uns jetzt zustößt, geht auf die eine oder andere Weise auf Hitler zurück. Was wollte ich jetzt machen? Telefonieren. Es war was Dringendes. Aber mit wem? Wozu? Was kann man denn noch sagen? Auch ich habe mich im Wald verirrt. Wie jener Heilige.
21.
Aber das Glühwürmchen war verschwunden
Und weil er frühmorgens beim Zeitungraufholen vergessen hatte, die Tür abzuschließen und nun in den vergeblichen Versuch vertieft war, den auseinandergefallenen Transistor wieder zusammenzusetzen, kam es soweit, daß er, als er den Kopf hob, plötzlich Annette Tadmor vor sich stehen sah, mit roter Jacke und einer schrägen blauen Wollbaskenmütze, die ihr das Aussehen eines französischen Dorfmädchens verlieh. Ihre Augen blitzten, und die Wangen glühten von der Kälte draußen. Sie erschien ihm kindlich, liebreizend, geradezu schmerzlich rein und schön. Dabei erinnerte er sich daran, was er ihr vorgestern angetan hatte, und fühlte sich verkommen.
Ein feiner Parfümduft, vielleicht von ganz leichtem Alkoholdunst durchsetzt, strömte von ihr aus und erregte bei Fima wechselweise Reue und Begehren.
»Von früh an versuche ich dich anzurufen«, sagte sie. »Den ganzen Morgen über ist pausenlos besetzt bei dir. Man könnte meinen, du leitest die Friedenskonferenz von zu Hause aus. Verzeihung, daß ich bei dir reingeplatzt bin. Wirklich nur für zwei Minuten. Du hast nicht zufällig einen Tropfen Wodka im Haus? Egal. Hör mal: Ich meine, ich hätte bei dir einen Ohrring verloren. Ich war ja so durcheinander. Sicher bist du der Überzeugung, ich sei eine gestörte Frau. Aber das Nette an dir ist, Fima, daß es mir völlig gleich ist, wie ich in deinen Augen bin. Als seien wir Bruder und Schwester. Ich kann mich kaum noch erinnern, was ich dir hier vorgequatscht habe. Und du hast mich nicht verspottet, weil du gut bist. Hast du hier keinen Ohrring gefunden? Aus Silber? So länglich, mit einem kleinen glitzernden Stein?«
Fima zögerte, entschied sich, fegte die Zeitung vom Sessel und setzte statt dessen Annette hinein. Ließ sie aber gleich wieder aufstehen und mühte sich, sie aus den Ärmeln der roten Jacke zu befreien. Bildhübsch, klug, taktvoll und höchst anziehend sah sie an diesem Morgen aus. Er lief in die Küche, um Wasser heißzumachen und nachzuschauen, ob noch Likör in der Flasche war, die er von seinem Vater bekommen hatte.
Als er wiederkam, sagte er: »Ich habe heute nacht von dir geträumt. Du warst bezaubernd und überglücklich, weil dein Mann wieder zu dir zurückgekehrtwar, und hast ihm alles verziehen. Jetzt bist du noch schöner als im Traum. Blau steht dir hervorragend. Du solltest es öfter tragen. Können wir nicht einen Schlußstrich ziehen unter das, was vorgestern passiert ist? Ich schäme mich über mich selbst. Ich war durch deine Nähe völlig verwirrt und hab’ mich offenbar ungefähr so wie der berüchtigte weinende Vergewaltiger verhalten. Über zwei Monate hatte ich keine Frau mehr gehabt. Nicht daß das eine Entschuldigung für Schweinerei wäre. Bringst du mir bei, wie man dich versöhnen kann?«
Annette sagte: »Genug. Hör auf damit. Sonst muß ich wieder weinen. Du hast mir mit deinem verständnisvollen, aufmerksamen Zuhören so geholfen, Fima. Ich glaube, so hat mir im Leben noch kein Mensch zugehört. Und ich war so sonderbar, egoistisch, ganz in meine Probleme versunken. Tut mir leid, daß ich dich gekränkt habe.«
Darauf
Weitere Kostenlose Bücher