Der dritte Zustand
fügte sie hinzu, sie halte seit jeher sehr viel von Träumen. Da habe doch tatsächlich heute nacht, als Fima von ihr träumte, Jerry plötzlich aus Mailand angerufen. Klang ein bißchen elend. Sagte, er habe keine Ahnung, was weiter sein werde. Die Zeit werde das ihre tun. Sie solle versuchen, ihn nicht zu hassen.
»Die Zeit«, begann Fima, aber Annette legte ihm die Hand auf den Mund: »Laß uns nicht sprechen. Vorgestern haben wir genug geredet. Laß uns mal zwei Minuten still dasitzen, dann geh’ ich wieder. Ich hab’ zig Sachen in der Stadt zu erledigen. Aber es tut mir gut, bei dir zu sein.«
Danach schwiegen sie. Fima setzte sich zu ihr auf die Sessellehne, den Arm ganz leicht um ihre Schulter gelegt, tief beschämt über die Unordnung ringsum – das langärmlige Unterhemd auf dem Sofa, die unterste Schrankschublade, die er nachts nicht zugekriegt hatte, die leeren Kaffeetassen auf dem Tisch, die überall herumflatternden Zeitungen. Und er verfluchte insgeheim sein Begehren und schwor sich, sich diesmal makellos zu benehmen.
Annette sagte versonnen, mehr zu sich selber als zu ihm: »Ich hab’ dir unrecht getan.«
Und diese Worte trieben ihm beinahe Tränen in die Augen. Seit seiner Kinderzeit hatte er jedesmal Freude empfunden, wenn ein Erwachsener ihm diese oder ähnliche Worte sagte. Mühsam unterdrückte er den Drang, vor ihr auf die Knie zu fallen, wie es ihr Mann im Traum getan hatte. Wobei Fima allerdings nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte: In Wirklichkeit war das nicht im Traum geschehen, sondern in seinen morgendlichen Grübeleien. Aber er sah darin keinen Unterschied.
»Ich habe eine gute Nachricht«, sagte er, »dein Ohrring ist hier. Ich habe ihn genau in dem Sessel gefunden, auf dem du jetzt sitzt. Schau bloß, was ich für ein Golem bin: Als ich heute morgen die Augen aufgemacht hatte, beim allerersten Tageslicht, dachte ich, es wäre ein Glühwürmchen, das vergessen hat, sich abzuschalten.« Und nachdem er einigen Mut gesammelt hatte, fügte er hinzu: »Du mußt wissen, daß ich ein Erpresser bin. Umsonst gebe ich ihn dir nicht zurück.«
Annette prustete los. Hörte auch nicht auf zu lachen, als er sich zu ihr hinabbeugte, zog ihn an den Haaren und küßte ihn wie ein Baby auf die Nasenspitze: »Genügt das? Gibst du mir jetzt meinen Ohrring wieder?«
»Das ist mehr, als ich verdient habe«, sagte Fima. »Du kriegst noch was raus.«
Damit griff er zu seiner eigenen Verblüffung plötzlich ihre Knie, zerrte ihren Körper gewaltsam vom Sessel zu Boden und verfiel in einen Rausch von Wonne und Verzweiflung, hielt sich nicht erst mit ihrer Kleidung auf, bahnte sich vielmehr blind, aber doch mit traumwandlerischer Sicherheit seinen Weg und drang fast augenblicklich in sie ein, wobei er meinte, nicht nur sein Glied, sondern sein ganzes Wesen sei in ihrem Schoß eingehüllt und geborgen. Keine Sekunde später brüllte er los und ergoß sich. Als er wieder zu sich kam, leer und leicht an der Wasseroberfläche schwimmend, als habe er sein ganzes Körpergewicht in ihrem Innern gelassen, befiel ihn Grauen, da er begriff, wie sehr er sich und sie von neuem gedemütigt hatte. Diesmal hatte er alles für immer zerstört, das wußte er. Doch da begann Annette ihn ganz langsam mit zarten Fingern zu streicheln, über Kopf und Nacken, bis ihn Schauer überliefen, daß sich ihm die Härchen sträubten.
»Der weinende Vergewaltiger«, sagte sie. Und wisperte: »Ruhig, Kind.« Und fragte erneut, vielleicht gibt’s hier zufällig einen Tropfen Wodka. Aus irgendeinem Grund fürchtete Fima, es könnte ihr kalt sein. Mit ungelenken Bewegungen mühte er sich ab, ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen. Und wollte sprechen. Aber sie verschloß ihm auch diesmal hastig mit der Hand die Lippen und sagte: »Sei endlich still, kleines Schwatzmaul.«
Als sie dastand und sich vor dem Spiegel die hübschen Haare kämmte, sagte sie noch: »Ich muß mich sputen. Hab’ tausend Dinge in der Stadt zu erledigen. Nur gib mir schnell den Ohrring zurück, den ich mir bei dir redlich verdient habe. Heute abend rufe ich dich an. Wir gehen ins Kino. Im Orion läuft eine köstliche französische Komödie mit Jean Gabin.«
Fima ging in die Küche und schenkte ihr den Rest des Likörs ein. Im buchstäblich allerletzten Moment konnte er den siedenden Kessel retten, dessen Wasser fast vollständig verdunstet war. Aber trotz aller Anstrengungen vermochte er sich nicht zu erinnern, wo er den Ohrring gelassen hatte. Deshalb
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