Der dritte Zustand
daß der Messias unser Todesengel ist. Das ist die ganze Lehre in einem Wort: Der Messias ist der Todesengel. Dann dürfen wir durchaus darüber diskutieren, wohin wir gehen wollen. Das ist eine legitime Streitfrage. Aber unter einer eisernen Bedingung: daß wir – wohin wir uns auch wenden mögen – immer ausschließlich reale, universale Landkarten verwenden. Keine messianische.«
Plötzlich stieß der Alte einen kurzen Pfiff aus, als staune er über Fimas Weisheit oder Dummheit. Dann hustete und ächzte er, wollte vielleicht auch ein paar Worte aneinanderreihen, aber Fima galoppierte schon weiter, glühend vor Feuereifer: »Warum zum Teufel will man uns hier einreden, die Gleichwertigkeit der Menschen sei eine dem Judentum fremde Vorstellung, fehlerhafte gojische Ware, falscher christlicher Pazifismus, aber die wirre Mixtur, die irgendein messianischer Rabbi, der Großvater von Gusch Emunim 17 , angerührt hat, unter Hinzuziehung einiger Lumpen von Hegel, denen er nur ein paar verschlissene Flicken vom Kusrari aufgenäht und noch ein paar alte Sachen des Rabbi Löw von Prag angefügt hat – wie konnte es bloß passieren, daß dieses miese Flickwerk plötzlich alslauterstes Judentum, geradewegs vom Berg Sinai, gilt? Was ist das denn? Heller Wahnsinn! ›Du sollst nicht morden‹ ist bei euch eine fremde Vorstellung, verpönter christlicher Pazifismus, und der Rabbiner Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dieser Proto-Nazi, der ist plötzlich jüdische Überlieferung! Ich sag’ dir, Vater, in Brenners 18 kleinem Fingernagel steckt mehr wahres Judentum als bei den Mumien in Kaftanen und den Psychopathen mit den Häkelkäppis. Die einen pissen auf den Staat, weil der Messias noch nicht da ist, und die anderen, weil der Messias schon vor der Tür steht und man die Gerüste abbauen kann. Und alle beide pissen sie auf ›du sollst nicht morden‹, weil es wichtigere Dinge gibt, das Verbot der Leichenöffnung zum Beispiel oder das Grab unserer Stammutter Isebel.«
»Fimotschka«, stöhnte der Vater, »sei mild und barmherzig. Ich bin ein alter Jude. Habe mit diesen verborgenen Dingen nichts zu tun. Und wer weiß, mein Lieber, vielleicht bin ich auch ein Nichtstuer. Ich habe Söhne großgezogen und emporgebracht, und der Golem hat sich gegen seinen Schöpfer erhoben. Nicht auf dich gemünzt, mein Guter, ich habe den Golem nur erwähnt, weil du mich freundlicherweise an den MaHaRaL von Prag erinnert hast. Finde ich nun gerade sehr schön, was du da über die universale Landkarte gesagt hast. So geschehe es, Amen. Geistreich. Äußerst treffend. Aber was nun? Vielleicht möchte unser Rabbi uns lehren, in welchem Laden man solche Karten kauft? Offenbarst du’s meinen Ohren? Erweist deinem Vater wahre Gunst, chessed schel emet ? Nein? Na dann. Ich werde dir einen wunderbar tiefen Ausspruch vom MaHaRaL 19 wiedergeben, als er an einer Kathedrale vorüberging. Übrigens, weißt du, was chessed schel emet wörtlich bedeutet?«
»Gut, in Ordnung«, lenkte Fima ein, »schon gut. Soll’s eben sein. Du erläßt mir diesmal den MaHaRaL, und ich gebe dir dafür bezüglich deiner Anstreicher nach. Schick sie am Sonntag und fertig.« Und damit sein Vater ihm nicht erst antworten konnte, benutzte er schnell die Worte, die er vorher von seinem Freund gehört hatte: »Über den Rest unterhalten wir uns persönlich. Ich muß mich beeilen.«
Tatsächlich beabsichtigte er, eine Tablette gegen Sodbrennen zu kauen und zum Einkaufszentrum hinunterzugehen, um den Transistor, den er in seiner Hast hinuntergeworfen und zerbrochen hatte, in Reparatur zu geben. Oder womöglich würde er einen neuen anschaffen müssen. Doch plötzlich tauchte fast greifbar das Bild eines alten, schwachen, abgerissenen, kurzsichtigen aschkenasischen Juden vor seinen Augen auf, der, in einen Gebetsschal gehüllt, heilige Texte vor sich hinmurmelnd und die Füße durch scharfe Steine gepeinigt, durch den finsteren Wald irrt, während weicher Schnee lautlos und beharrlich auf ihn herabrieselt, ein Nachtvogel übel schreit und Wölfe im Dunkeln heulen.
Fima bekam es mit der Angst zu tun.
In dem Augenblick, in dem er den Hörer auflegte, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, seinen Vater zu fragen, wie es ihm ginge. Und daß er ihn eigentlich zur Untersuchung ins Krankenhaus hatte bringen wollen. Ja, er hatte nicht einmal darauf geachtet, ob der Alte noch dieses Pfeifen in der Brust hatte. Er meinte, ein feines Zischeln gehört zu haben, aber beim weiteren Nachdenken
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