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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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wie ein nasser Köter bei dir reingeplatzt, hab’ Unsinn dahergeredet, bin über dich hergefallen, hab’ dich beleidigt und bin dann ohne Erklärung geflüchtet. Jetzt schäme ich mich. Ich hab’ keine Ahnung, was du von mir denkst. Bloß daß du nicht meinst, ich ... fühlte mich nicht zu dir hingezogen oder so. Das ist es nicht, Nina. Im Gegenteil. Mehr denn je. Ich hab’ einfach einen schlechten Tag gehabt. Diese ganze Woche war nicht besonders. So ein Gefühl, als lebte ich gar nicht. Existierte nur. Im ewigen Alltagstrott. Lustlos und ohne Verstand. Es gibt so einen Psalmvers: Meine Seele zerfließt vor Kummer. Und das stimmt genau – zerfließen. Manchmal hab’ ich keine Ahnung, warum ich hier noch rumlaufe wie der Schnee von gestern. Gehe. Komme. Schreibe. Durchstreiche. Im Büro Formulare ausfülle. Mich an- und ausziehe. Telefoniere. Alle belästige und euch das Hirn weichrede. Absichtlich meinen Vater ärgere. Wie kann mich überhaupt noch jemand ausstehen? Wieso jagst du mich immer noch nicht zum Teufel? Bringst du mir bei, wie man dich versöhnen kann?«
    »Still, Fima«, sagte Nina. »Hör auf zu reden.«
    Unterdessen verteilte sie die Lebensmittel in die Fächer des jetzt blitzsauberen Kühlschranks. Ihre mageren Schultern bebten. Von hinten kam sie ihm wie ein kleines Tier vor, das sich im Gitter der Falle quält, und er empfand Mitleid mit ihr. Den Rücken ihm zugewandt, fuhr sie fort: »Ich versteh’s auch nicht. Vor eineinhalb Stunden in der Praxis hat mich plötzlich das Gefühl befallen, du hättest irgendein Leiden. Dir sei was passiert. Vielleicht seist du erkrankt und lägst hier fiebernd allein. Ich habe versucht anzurufen, aber es war pausenlos besetzt. Ich dachte, du hättst wieder mal vergessen, den Hörer aufzulegen. Da bin ich mitten in einer ziemlich wichtigen Verhandlung über den Konkurs einer Versicherungsgesellschaft aufgesprungen und direkt zu dir gerannt. Nicht direkt zu dir: Unterwegs hab’ ich angehalten, um etwas einzukaufen, damit du nicht verhungerst. Man könnte meinen, Uri und ich hätten dich an Sohnes Statt adoptiert. Nur bereitet dieses Spiel Uri offenbar Vergnügen und mir – Kummer. Die ganze Zeit. Jedesmal meine ich von neuem, dir geschähe ein Unheil, und dann laß ich alles stehen und stürme geradewegs zu dir. So ein beängstigendes, beklemmendes Gefühl, als riefst du mich aus derFerne: Nina, komm. Es läßt sich nicht erklären. Sei so gut, Fima, und hör endlich auf, Brot zu fressen. Guck, wie du zugenommen hast. Und außerdem habe ich momentan weder Kraft noch Lust für deine revolutionäre Theorie über Mitterrand und die britische Labour. Heb das für Uri am Samstagabend auf. Sag mir statt dessen lieber, was los ist. Was mit dir vor sich geht. Irgendwas Sonderbares, das du mir nicht erzählst. Noch sonderbarer als sonst schon. Als hätte man dich leicht unter Drogen gesetzt.«
    Fima gehorchte sofort, ließ mitten im Abbeißen von der Brotscheibe ab, legte sie geistesabwesend in den Ausguß, als sei es eine leere Tasse. Und stammelte, das Großartige sei, daß er sich vor ihr, vor Nina, fast nie schäme. Es mache ihm nichts aus, lächerlich zu wirken. Ja nicht einmal, in ihrer Gegenwart einen armseligen oder verächtlichen Eindruck zu machen wie vorgestern nacht. Als sei sie seine Schwester. Und jetzt werde er etwas Triviales sagen, aber was sei schon dabei? Nicht immer sei trivial das Gegenteil von echt. Was er sagen wolle: Sie sei in seinen Augen ... ein guter Mensch. Und ihre schlanken Finger seien die schönsten, die er je im Leben gesehen habe.
    Immer noch mit dem Rücken zu ihm, über die Spüle gebeugt, entfernte sie das Brot, das er dort hingelegt hatte, polierte Kacheln und Hähne, wusch sich dann ausgiebig die Hände und sagte schließlich traurig: »Du hast einen Socken bei mir vergessen, Fima.« Und ein wenig später: »Wir haben schon endlos lange nicht mehr miteinander geschlafen.«
    Sie drückte die Zigarette aus, faßte ihn mit ihrer herrlichen Hand, der eines kleinen Mädchens aus dem Fernen Osten, am Arm und hauchte: »Komm jetzt. In einer knappen Stunde muß ich wieder im Büro sein.«
    Auf dem Weg zum Bett freute sich Fima, daß Nina kurzsichtig war, denn aus dem Aschenbecher, in dem sie ihre Zigarette ausgedrückt hatte, blitzte ganz kurz und flüchtig etwas auf, das Fima für Annettes abhanden gekommenen Ohrring hielt.
    Nina zog den Vorhang zu, rollte die Tagesdecke zurück, rückte die Kissen zurecht und nahm die Brille ab. Ihre

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