Der dritte Zustand
Ikone einer russisch-orthodoxen Dorfheiligen. Dann sagte sie: »Scheinmann, Doktor Nissan. Macht nichts. Das ist überhaupt nicht wichtig. Möge Gott nur dem ganzen Volk Israel Gesundheit und ein Auskommen schenken. Möge nur endlich Frieden für unseren teuren Staat kommen. Es ist schon nicht mehr zu ertragen, daß dauernd jemand stirbt. Heute Gulasch für Herrn Doktor? Oder heute Huhn?«
Fima überlegte kurz und bestellte dann Gulasch, Omelette, gemischten Salat und Kompott. An einem Tisch saß ein kleiner, runzliger Mann, der Fima deprimiert und ungesund vorkam. Der Betreffende las gemächlich die Mittagszeitung Jediot Acharonot , drehte die Blätter hin und her, starrte hinein, wobei er sich mit einem Zahnstocher in den Zähnen bohrte, und blätterte erneut um. Seine Haare schienen mit zähflüssigem Motoröl amSchädel festgeklebt zu sein. Einen Augenblick erwog Fima die Möglichkeit, er selber sitze da, sei gestern oder vorgestern an jenem Tisch hängengeblieben, und all die Ereignisse der Nacht und dieses Morgens seien nicht passiert. Oder jemand anderem widerfahren, der Fima in vieler Hinsicht ähnelte und nur in einigen nichtigen, unbedeutenden Details von ihm abwich. Doch die Unterscheidung zwischen offenen Möglichkeiten und abgeschlossenen Tatsachen erschien Fima zu vereinfachend. Womöglich hatte sein Vater doch recht: Es gibt keine universale Landkarte der Realität. Gibt’s nicht und kann’s nicht geben. Jeder Mensch findet sich so oder anders im Wald zurecht, nach dubiosen Kartenfetzen, mit denen er auf die Welt gekommen ist oder die er hier und da unterwegs aufgelesen hat. Deshalb irren wir alle. Bewegen uns im Kreis. Fangen mit dem Krug an und enden meistens mit der Tonne. Treffen ohne Verstand zusammen und verlieren einander wieder im Dunkel, ohne einen einzigen fernen Funken von nehora me-alja , dem himmlischen Licht.
Fima war fast verlockt, die Wirtin zu fragen, wer dieser andere Herr sei und seit wann er schon so dasitze und seine Zeit vertrödle, den Schatz des Lebens hier an dem Tisch mit der grün-weiß gewürfelten Wachstuchdecke vergeude. Schließlich begnügte er sich mit der Frage, was man nach ihrer Ansicht tun müsse, um dem Frieden näherzukommen.
Frau Scheinmann wurde argwöhnisch. Sie blickte sich um, als fürchte sie sich vor dem bösen Blick, und antwortete ängstlich: »Was verstehen wir davon? Sollen die Großen darüber entscheiden. Die Generäle von unserer Regierung. Möge der Ewige ihnen nur Gesundheit schenken. Und viel Verstand.«
»Braucht’s den Arabern gegenüber ein paar Verzichtsleistungen?«
Als habe sie Angst vor Spionen, vor Schwierigkeiten, vor den Worten selber, musterte sie mit den Augen die Tür und die Falten des Vorhangs, der die Gaststube von der Küche trennte. Dann senkte sie die Stimme zum Flüsterton: »Man braucht ein bißchen Erbarmen. Sonst nichts.«
Fima bohrte weiter: »Erbarmen mit den Arabern oder mit uns?«
Wieder lächelte sie ihn mit koketter Zaghaftigkeit an wie ein Dorfmädchen, das man unvermittelt mit einer Frage nach der Farbe ihrer Unterwäsche oder der Entfernung von hier zum Mond in Verlegenheit gebracht hat. Und antwortete mit verschmitztem Charme: »Erbarmen ist Erbarmen.«
Der Mann vom Nebentisch, ein verhutzelter Asketentyp mit fettigenHaarsträhnen – Fima hielt ihn für einen kleinen Beamten, der an Hämorrhoiden litt, oder vielleicht einen Rentner der Kanalisationsabteilung –, mischte sich in die Unterhaltung ein und äußerte mit rumänischem Akzent in gequetschtem Tonfall, ohne den Zahnstocher ruhen zu lassen: »Mein Herr. Verzeihung. Bitte schön. Was heißt Araber. Was heißt Frieden. Was heißt Staat. Wer braucht das? Solange man lebt, muß man es sich gutgehen lassen. Was soll man sich für die ganze Welt den Kopf zerbrechen? Zerbricht sich die ganze Welt den Kopf für Sie? Sich bloß gut amüsieren. Soviel reingeht. Bloß Spaß haben. Alles andere ist verlorene Zeit. Entschuldigen Sie die Einmischung.«
Nur sah der Sprecher Fima nicht wie jemand aus, der sich die ganze Zeit amüsiert, sondern vielleicht eher wie ein Typ, der sich ab und zu ein paar Schekel nebenbei als Spitzel für die Einkommenssteuer verdient. Offenbar litt er unter häufigem Tatterich.
Fima fragte ernst: »Würden Sie empfehlen, mein Herr, uns in allem auf die Regierung zu verlassen? Daß jeder für sich selbst sorgt und sich in keiner öffentlichen Angelegenheit engagiert?«
Der deprimierte Denunziant sagte: »Am besten, die von der
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