Der dritte Zustand
Hügeln verebbt, so verebbt die Seele. Allerdings verebbt auch der Schmerz ein wenig im Lauf der Jahre, aber gemeinsam mit dem Schmerz verebben die Lebenszeichen. Die primären, einfachen, stummen Dinge, vor deren Zauber jedes Kind atemlos staunend innehält – der Wechsel der Jahreszeiten, der Lauf der Katze im Hof, das Drehen der Tür in den Angeln, der Kreislauf von Wachsen und Verwelken, das Prallwerden der Früchte, das Wispern der Pinien, eine Ameisenkolonne auf dem Balkon, die Veränderung des Lichts in den Tälern und auf den Abhängen dieser Berge, die Blässe des Mondes und der ihn umgebende Hof, Spinnennetze, die gegen Morgen Tauperlen ansammeln, die Wunder des Atmens, des Sprechens, die Abenddämmerung, das Sieden und Gefrieren von Wasser, das Gleißen der Mittagsstrahlen in einer kleinen Glasscherbe – dies und anderes mehr sind die einfachen Dinge, die gewesen und uns verlorengegangen sind. Sie kehren nicht wieder. Oder schlimmer noch – sie kehren zurück und blinken uns zuweilen aus der Ferne, aber die erste Erregung ist verebbt und erloschen. Für immer. Und alles ist getrübt und verschüttet. Das Leben selbst setzt nach und nach eine Staub- und Rußschicht an: Wer siegt in Frankreich, wie lautet der Beschluß der Likud-Parteizentrale, warum hat man den Artikel abgelehnt, was verdient ein Generaldirektor, wie wird der Minister auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe reagieren. Wieder und wieder hat man mir heute morgen gesagt, wieder und wieder habe ich heute gesagt: »Ich komme zu spät. Ich muß mich schon sputen.« Aber warum? Wohin? Wozu? Jene elementaren Dinge haben doch gewiß irgendwann auch einmal Verteidigungsminister Rabins Herz höher schlagen lassen, als er vor tausend Jahren – ein in sich gekehrter rothaariger Junge, barfuß, sommersprossig und mager – an einem Herbsttag um sechs Uhr früh in einem Tel Aviver Hinterhof zwischen Wäscheleinen herumstand und plötzlich ein Schwarm weißer Kraniche in den rosa Morgenwolken über ihn hinwegzog. Und auch ihm, wie mir, eine reine himmelblaue Welt der Stille, fern aller Worte und Lügen, verhieß, wenn wir es nur wagen würden, alleshinter uns zu lassen und einfach aufzubrechen. Und nun sind dieser Verteidigungsminister und auch wir, die tagtäglich in der Zeitung über ihn herfallen, allesamt bereits beim Vergessen und Verebben. Wie tote Seelen. Wohin wir uns auch wenden, wir lassen einen Schwall von Wortkadavern zurück, von denen es nicht mehr weit ist bis zu den Leichen der tagein, tagaus in den Gebieten umgebrachten arabischen Kindern. Und es ist auch nicht mehr weit zu dem verabscheuenswürdigen Umstand, daß ein Mensch wie ich die Kinder der Siedlerfamilie, die vorgestern auf der Straße nach Alfe-Menasche durch einen Molotowcocktail bei lebendigem Leib verbrannt sind, mir nichts, dir nichts aus der Totenrolle streicht. Warum habe ich sie gestrichen? Ist ihr Tod nicht rein genug? Unwürdig, in den Leidenstempel einzutreten, der uns angeblich untersteht? Wirklich nur, weil die Siedler mir Angst und Ärger bereiten, während die arabischen Kinder mein Gewissen belasten? Ist ein nichtiger Mensch wie ich schon so verkommen, daß er selbst zwischen dem unerträglichen und dem nicht ganz so unerträglichen Tod von Kindern unterscheidet? Die Gerechtigkeit in Person hat aus Frau Schönbergs Mund gesprochen, als sie dir einfach sagte: Erbarmen ist Erbarmen. Verteidigungsminister Rabin ist den Grundwerten untreu geworden und so weiter. Und nach Rabins Auffassung sind ich und meinesgleichen wohl dem Hauptgrundsatz untreu geworden etcetera. Aber hinsichtlich des Rufs, den das erste Goldlicht eines fernen Herbstmorgens an uns gerichtet hat, hinsichtlich des Flugs jener Kraniche, sind wir doch alle Untreue. Keinerlei Unterschied zwischen dem Minister und mir. Und auch Dimmi und seine Freunde haben wir schon vergiftet. Ich bin daher verpflichtet, Rabin ein paar Zeilen zu schreiben. Mich zu entschuldigen. Ich muß zu erklären versuchen, daß wir beide trotz allem im selben Boot sitzen. Oder vielleicht um ein Zusammentreffen bitten?
»Genug damit«, grinste Fima säuerlich, »wir haben gefehlt, sind untreu gewesen. Genug.«
Beim Verlassen des Busses murmelte er wie ein nörgelnder Alter: »Ein Kalauer. Nichts als ein hohler Kalauer.« Denn plötzlich erschien ihm das Wortgeplänkel mit schicheha und schichecha , »Vergessen« und »Verebben«, so blödsinnig, daß er beim Passieren der Vordertür dem Fahrer weder danke noch Schalom sagte, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher