Der dritte Zustand
er sonst doch sogar in Augenblicken völliger Zerstreutheit darauf achtete, auch gestern, als er aus Versehen an der falschen Haltestelle ausgestiegen war.
Zwei, drei Minuten blieb Fima auf der grauen Straße zwischen totenBlättern und wirbelnden Papierfetzen stehen, lauschte aufmerksam dem Wispern der feuchten Pinien hinter den Steinmäuerchen und blickte in Fahrtrichtung: Was hatte er eigentlich im Bus vergessen? Ein Buch? Den Schirm? Einen Umschlag? Vielleicht irgendein kleines Päckchen? Etwas, das Tamar gehörte? Oder Annette Tadmor? »Schwebt und kreist, ihr Kraniche«, fiel ihm plötzlich eine längst vergessene Zeile aus einem alten Kinderlied wieder ein. Und er tröstete sich mit der Hoffnung, das auf dem Sitz Zurückgelassene sei nichts weiter als der Ma’ariv , den er dort gefunden hatte. Der Minister und die Kraniche waren schuld daran, daß er sich nicht einmal mehr erinnerte, wie die Schlagzeile der Zeitung gelautet hatte.
24.
Schmach und Schuld
Auf dem gepflasterten Pfad, der durch den Gartenstreifen um das Gebäude herum zum Praxiseingang führte, hielt er inne und blieb ein Weilchen stehen, weil ihn vom zweiten Stock, durch die geschlossenen Fenster, durch Wind und Pinienrauschen hindurch, die Celloklänge einer der ältlichen Musikerinnen erreichten. Oder vielleicht war es nur ein Schüler, der wieder und wieder dieselbe Tonleiter übte.
Vergeblich mühte Fima sich, die Melodie herauszuhören, obwohl er im Stehen mit ganzer Kraft lauschte, wie ein Mensch, der nicht weiß, woher und wohin. Könnte er nur in diesem Augenblick die Erscheinungsform wechseln: sich in Dunst verwandeln. Oder in einen Stein. Zum Kranich werden. Ein inneres Cello regte sich in ihm und begann dem Cello von droben in seiner Sprache zu antworten – ein Klang der Zauberei und der Schadenfreude über sich selbst.
Fast greifbar sah er das Leben der drei ältlichen Musikerinnen vor sich, die stundenlang in einem klapprigen Taxi über regennasse, winterliche Straßen holperten, um in einem entlegenen Kibbuz im hintersten Obergaliläa oder beim Eröffnungsakt eines Veteranentreffens der Jüdischen Brigade ein Rezital zu geben. Wie mochten sie einen freien Winterabend verbringen? Nachdem das Geschirr gespült und die Küche aufgeräumt war, trafen sie sich gewiß alle drei im Gemeinschaftsraum. Fima malte sich in der Phantasie ein calvinistisch strenges Wohnzimmer mit brauner Standuhraus, auf der lateinische Buchstaben die Funktion von Zahlen erfüllen. Dazu eine Kommode, ein wuchtiger runder Tisch mit massiven Beinen und schwarze Stühle mit steilen Lehnen. Ein Stoffhund aus grauer Wolle sitzt auf dem Teppichrand. Auf dem geschlossenen Klavier, auf dem Tisch, auf der Truhe liegen Spitzendeckchen, wie sie auch im Haus seines Vaters in Rechavia jedes freie Fleckchen füllten. Ein großer alter Rundfunkapparat und künstliche blaue Blumen in einer hohen Vase vervollständigen das Bild. Alle Vorhänge sind zugezogen, alle Läden geschlossen, und ein blaues Feuer blüht im Ofen, der von Zeit zu Zeit leise aufblubbert, wenn das Petroleum vom Behälter zum Docht fließt. Eine der Frauen, vielleicht reihum, liest den anderen mit gedämpfter Stimme aus einem deutschen Roman vor. Lotte in Weimar zum Beispiel. Kein Laut außer ihrer Stimme, dem Ticken der Standuhr und dem Blubbern des Petroleums ertönt dort bis zum Ende des Abends. Um Punkt elf erheben sie sich und gehen auf ihre Zimmer. Die drei Türen schließen sich hinter ihnen bis zum Morgen. Und im Salon, im tiefen, schweigenden Dunkel, tickt die Pendeluhr unverwandt weiter. Und schlägt einmal in der Stunde dumpf.
Am Eingang zur Praxis betrachtete Fima das elegante Schild mit dem Aufdruck: Dr. Wahrhaftig – Dr. Etan – Fachärzte für Frauenheilkunde. Wie immer empfand er Unbehagen, weil die Sprache eine solche Häufung zusammengesetzter Wörter nicht duldet. Worauf er wütend murmelte: »Dann duldet sie’s eben nicht. Na und.«
Nora, Wahrhaftigs einzige Tochter und Gad Etans frühere Frau, die vor zehn Jahren mit einem Gastdichter aus Lateinamerika durchgebrannt war – ob sie wohl manchmal unter Heimweh litt? Unter Gewissensbissen? Unter Anwandlungen von Schmach und Schuld? Niemals wurde hier von ihr gesprochen. Auch nicht indirekt. Nicht einmal andeutungsweise. Als sei sie nie gewesen. Nur Tamar erzählte ihm manchmal von einem an die Absenderin zurückgegangenen Brief oder einem mit Schweigen und Aufknallen beantworteten Anruf. Sie versuchte Fima auch hartnäckig davon
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