Der Dritte Zwilling.
gewesen. »Bin ich der, der ich bin, weil ich so geboren wurde? Oder bin ich das Ergebnis meiner Erziehung und der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin?«
Jeannie nickte lächelnd, und ihre langen Haare wogten träge wie Meereswellen.
Steve fragte sich, wie dieses Haar sich anfühlte. »Aber wir versuchen, diese Frage auf streng wissenschaftlicher Grundlage zu beantworten«, sagte Jeannie. »Wissen Sie, eineiige Zwillinge haben identische Gene - vollkommen identisch. Bei zweieiigen Zwillingen gilt das nicht, aber sie werden für gewöhnlich im gleichen sozialen Umfeld aufgezogen und erzogen. Wir studieren hier beide Arten von Zwillingen. Wir vergleichen getrennt aufgewachsene Zwillinge und versuchen zu ermitteln, inwieweit sie sich ähneln.«
Steve fragte sich, weshalb ihn das alles betraf. Und er fragte sich auch, wie alt Jeannie sein mochte. Als er sie gestern auf dem Tennisplatz gesehen hatte, in Sportkleidung, das Haar schimmernd im Sonnenlicht, hatte er angenommen, daß sie in seinem Alter war; nun aber erkannte er, daß sie auf die Dreißig zuging.
Diese Feststellung änderte nichts an seinen Empfindungen, doch er hatte sich noch nie zu einer Frau dieses Alters hingezogen gefühlt.
Jeannie fuhr fort: »Wäre die Umwelt der wichtigere Faktor, müßten sich Zwillinge, die zusammen erzogen wurden, sehr ähnlich sein, wohingegen Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind, ziemliche Unterschiede aufweisen müßten - wobei es keine Rolle spielt, ob es eineiige oder zweieiige Zwillinge sind.
Aber wir haben das Gegenteil festgestellt. Eineiige Zwillinge ähneln einander, wobei es keine Rolle spielt, wer sie erzogen hat. Es ist sogar so, daß eineiige Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind, eine größere Ähnlichkeit aufweisen als gemeinsam erzogene zweieiige Zwillinge.«
»Wie Benny und Arnold?«
»Genau. Sie haben ja gesehen, wie sehr die beiden sich ähneln, obwohl sie in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Das ist ein typischer Fall. An diesem Institut wurden mehr als einhundert eineiige Zwillingspaare untersucht, die getrennt erzogen wurden. Von diesen zweihundert Personen waren zwei Lyriker - und diese beiden waren ein Zwillingspaar. Zwei weitere beschäftigten sich beruflich mit Haustieren; der eine war Hundezüchter, der andere Hundetrainer.
Ebenfalls Zwillinge. Dann waren da zwei Musiker – der eine Klavierlehrer, der andere Studiogitarrist. Wiederum Zwillinge. Aber das sind nur die augenfälligen Beispiele. Wie Sie heute morgen gesehen haben, nehmen wir eine wissenschaftliche Bestimmung der Persönlichkeit, des IQ und verschiedener physischer Beschaffenheiten vor. Die Ergebnisse zeigen oft das gleiche Muster: Die eineiigen Zwillinge weisen eine hochgradige Ähnlichkeit auf, wobei ihre Erziehung keine Rolle spielt.«
»Wohingegen Sue und Elizabeth ziemlich unterschiedliche Mädchen zu sein scheinen.«
»So ist es. Doch sie haben dieselben Eltern, dasselbe Zuhause, sie besuchen dieselbe Schule, sie haben ihr Leben lang die gleiche Nahrung zu sich genommen und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, daß Sue während des Mittagessens still war, wohingegen Elizabeth Ihnen ihre Lebensgeschichte erzählt hat.«
»Um die Wahrheit zu sagen, sie hat mir die Bedeutung des Begriffs ›monozygotisch‹ erklärt.«
Jeannie lachte, wobei sie zu Steves Entzücken ihre weißen Zähne und ein Stückchen ihrer rosafarbenen Zunge zeigte.
»Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was ich hier zu suchen habe«, meinte Steve.
Plötzlich schaute Jeannie wieder verlegen drein. »Es ist ein bißchen schwierig zu erklären«, sagte sie. »So einen Fall hatten wir bis jetzt noch nicht …«
Mit einem Mal wußte Steve Bescheid. Es war offensichtlich, zugleich aber so phantastisch, daß er bislang noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war.
»Sie meinen, ich habe einen Zwilling, von dem ich nichts weiß?« fragte er ungläubig.
»Ich wußte nicht, wie ich es Ihnen schonend beibringen konnte«, erwiderte Jeannie, offensichtlich wütend auf sich selbst. »Ja. Ich gehe davon aus, daß Sie einen Zwilling haben.«
»Oh, Mann!« Für einen Augenblick war Steve benommen vor Fassungslosigkeit.
»Tut mir wirklich leid, daß ich so ungeschickt …«
»Schon gut. Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen.«
»Doch. Normalerweise wissen die Versuchspersonen, daß sie Zwillinge haben, bevor sie zu uns kommen. Aber ich habe eine neue Methode entwickelt, Probanden für unsere Forschungen ausfindig zu
Weitere Kostenlose Bücher