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Der Dritte Zwilling.

Der Dritte Zwilling.

Titel: Der Dritte Zwilling. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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lächeln und seine Gürtelschnalle öffnen.

SONNTAG

Kapitel 1

    Ich will nach Hause«, sagte Mrs. Ferrami.
    »Mach dir keine Sorgen, Mom«, erwiderte ihre Tochter Jeannie. »Wir holen dich schneller hier raus, als du glaubst.«
    Jeannies jüngere Schwester, Patty, bedachte Jeannie mit einem raschen Blick und sagte: »Und wie sollen wir das anstellen?«
    Die Krankenversicherung ihrer Mutter zahlte nur für das Bella-Vista-Pflegeheim, und das war drittklassig. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus zwei hohen Krankenbetten, zwei Wandschränken, einem Sofa und einem Fernseher. Die Wände waren pilzbraun gestrichen, und der Fußboden war mit Fliesen aus Kunststoff ausgelegt: cremefarben, mit orangenen Streifen. Das Fenster besaß Gitterstäbe, aber keine Gardine und gewährte den Blick auf eine Tankstelle. In der Ecke befand sich ein Waschbecken, und die Toilette lag den Flur hinunter.
    »Ich will nach Hause«, wiederholte Mom. 
    »Aber Mom«, sagte Patty, »du vergißt doch laufend etwas. Du kannst nicht mehr auf dich selbst aufpassen.«
    »Natürlich kann ich das. Wag es ja nicht, so mit mir zu reden!«
    Jeannie biß sich auf die Lippe. Als sie das Wrack betrachtete, das einst ihre Mutter gewesen war, hätte sie am liebsten geweint. Mom besaß markante Gesichtszüge: schwarze Brauen, dunkle Augen, eine gerade Nase und ein kräftiges Kinn. Die Gesichter Jeannies und Pattys wiesen die gleichen Merkmale auf; allerdings war Mom klein, die Töchter dagegen hochgewachsen wie Daddy.
    Alle drei waren so willensstark, wie ihr Äußeres vermuten ließ. »Energiebündel«
    war der Begriff, der für gewöhnlich benutzt wurde, um die Ferrami-Frauen zu charakterisieren. Doch Mom würde nie wieder ein Energiebündel sein. Sie hatte die Alzheimersche Krankheit.
    Mom war noch keine sechzig. Jeannie, neunundzwanzig Jahre alt, und die sechsundzwanzigjährige Patty hatten die Hoffnung gehegt, daß Mom noch einige Jahre für sich selbst sorgen könnte, doch an diesem Morgen um fünf Uhr früh war diese Hoffnung zunichte gemacht worden. Ein Polizist aus Washington hatte angerufen und mitgeteilt, er habe Mom gefunden, als sie in einem schmuddeligen Nachthemd über die Achtzehnte Straße geschlurft war. Sie hatte geweint und gesagt, sie könne sich nicht mehr erinnern, wo sie wohne.
    Jeannie war in ihren Wagen gestiegen und an diesem stillen Sonntagmorgen nach Washington gefahren, eine Stunde von Baltimore entfernt. Sie hatte Mom auf dem Polizeirevier abgeholt, sie nach Hause gebracht, gewaschen und angezogen und hatte dann Patty angerufen. Gemeinsam hatten die beiden Schwestern sich um die Formalitäten für die Einweisung Moms ins Bella Vista gekümmert. Das Heim befand sich in der Stadt Columbia, zwischen Washington und Baltimore.
    Schon ihre Tante Rosa hatte ihre letzten Jahre im Bella Vista verbracht. Tante Rosa hatte die gleiche Versicherungspolice gehabt wie Mom.
    »Mir gefällt es hier nicht«, sagte Mom.
    »Uns gefällt es auch nicht«, sagte Jeannie, »aber im Moment können wir uns nichts anderes leisten.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Tonfall zu geben, doch die Worte klangen schroff.
    Patty warf der Schwester einen tadelnden Blick zu und sagte: »Nun hab’ dich nicht so, Mom. Wir haben schon schlechter gewohnt.«
    Das stimmte. Nachdem ihr Vater das zweite Mal ins Gefängnis gewandert war, hatten Mom und die beiden Mädchen in einer Einzimmerwohnung gehaust, mit einer Kochplatte auf der Anrichte und einem Wasserhahn auf dem Flur. Das war während ihrer Sozialhilfe-Jahre gewesen. Doch in der Not hatte Mom wie eine Löwin gekämpft. Sobald Jeannie und Patty in der Schule waren und Mom eine vertrauenswürdige ältere Dame gefunden hatte, die sich um die Mädchen kümmerte, wenn sie nach Hause kamen, besorgte Mom sich einen Job - sie war Friseuse gewesen und immer noch tüchtig in ihrem Beruf, wenngleich ein bißchen altmodisch - und bezog mit den Mädchen eine kleine Zweizimmerwohnung in Adams-Morgan, ein zur damaligen Zeit respektables Arbeiterwohnviertel.
    Mom machte immer Toast mit Ei zum Frühstück und schickte Jeannie und-Patty in sauberen Kleidern zur Schule; dann frisierte sie sich, schminkte sich - man muß gepflegt aussehen, wenn man in einem Salon arbeitet - und ließ stets eine blitzsaubere Küche zurück; auf dem Tisch stand immer ein Teller mit Plätzchen für die Mädchen, wenn sie nach Hause kamen. An den Sonntagen machten die drei ihre Wohnung sauber und wuschen gemeinsam die Wäsche. Mom war so

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