Der Dschunken Doktor
Panzerplatten.
Es war unmöglich, Tsching nach Gangstermanier im Wagen zu überraschen, zu erschießen oder zu entführen. Einmal hinter den Panzerscheiben, holte niemand mehr den Dicken heraus. Die einzige Schwachstelle war das Bordell von Madame Yo. Hier wollte Tsching völlig allein sein, hier ging er allein hin und kam allein zurück – vielleicht ein winziges Überbleibsel von Scham und Verklemmtheit, seine Umgebung nicht an diesem Besuch zu beteiligen, obwohl Chauffeur und Mongole natürlich genau wußten, wohin Herr Tsching ging.
Er vertraute darauf, daß die wenigen Meter bis zu seinem Cadillac auch sicher waren. Außerdem war er nicht allein, das bunte, laute Nachtleben am Hafen umgab ihn.
Und es wurde jetzt sein Feind.
Es war schon ungeheuerlich, daß ein Betrunkener, ein junger kräftiger Bursche ihm entgegenkam, nicht auswich, sondern ihn voll anrempelte. Obgleich Tsching Hao-jih mit seinen drei Zentnern Gewicht eine kompakte Masse war, die nicht so schnell wankte, erzeugte der Zusammenprall bei ihm doch ein Straucheln und Zurücktaumeln in einen Hauseingang, denn der Betrunkene hatte im Augenblick des Aufpralls beide Fäuste mit aller Wucht in Tschings Magengrube gestoßen. Ein lähmender Schlag … die Luft blieb weg, es gab keinen Atem für einen Schrei mehr, im Hirn dröhnte der Hieb wider, die Beine rutschten weg … helfende Hände fingen ihn auf, zerrten ihn ins Dunkel des Flures, und bevor Tsching noch Luft holen konnte, atmete er einen süßlichen Duft ein, der viel widerlicher war als sein Parfüm.
Chloroform, durchzuckte es ihn. Sie entführen mich! Hilfe! Hilfe! Aber der Schrei kam über einen Gedanken nicht hinaus. Nach drei Atemzügen brach Tsching Hao-jih zusammen, stürzte auf eine Treppe und blieb dort betäubt liegen.
Kaum zwanzig Minuten später schoben vier junge Männer eine Gemüsekarre über die Hafenplatte zum Quai. Sie transportierten einen schweren Sack, mußten ihn zu viert vom Wagen zerren und hievten ihn dann mit zwei dicken Tauen und mittels eines Brettes, das als Rutsche diente, in einen Sampan mit Körben voller gerösteter Krabben und Garnelen.
Sobald der Sack an Bord war, band man die Leinen los und ruderte das Boot hinaus in die Bucht von Yau Ma Tei. Außer Sichtweite des Quais band einer der Burschen den Sack auf und legte Tschings Kopf bloß. Immer, wenn Tsching tiefer Atem holte und die Augen öffnen wollte, hielt man ihm einen Wattebausch unter die Nase. Er fiel dann wieder in völlige Erschlaffung, aber die Narkose war so vorsichtig, daß er keinen Schaden nahm.
Dr. Mei wartete eine halbe Stunde, bis er aufstand und die Orchidee aus seinem Knopfloch nahm. Er steckte sie Madame Yo in das lackschwarze künstliche Haar und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Ich bin neu geboren!« sagte er. »Ich habe es dir vorausgesagt.«
»Neugeboren! Ich sehe einen alten fetten Mann!«
»Mit einer neuen Seele, Yo!«
»Und wie äußert sich die?«
»Furchtbar, Yo. Fürchterlich! Schrecklich! Ungeheuerlich! Aber davon wirst du nichts merken. Du nicht! Gib mir einen Kuß!«
»Was soll ich?« Madame Yo saß steif auf ihrem Sessel.
»Gib mir einen Kuß!«
»Bist du verrückt, Mei?«
»Verdammt! Ich will dich küssen! Es wird für mich der Eintritt in eine andere Welt sein …«
»Du hast zuviel gesoffen, Mei!«
»Wenn du wüßtest, wie nüchtern ich heute bin. So klar war ich in zwanzig Jahren nicht. Küß mich!«
»Du bist ein Irrer, Mei!« Madame Yo, einen Kopf größer als Mei, beugte sich herunter und drückte ihre welken, faltigen Lippen auf Meis Mund. Es war ein klebriger Kuß. Das Fett des Lippenstiftes lag dick auf der Haut. Es schmeckte wie Himbeeren.
Mei wischte sich über die Stirn, als Yo sich wieder von ihm abhob, und sah sie ernst an.
»Weißt du, was Rache ist?«
»Ja … was kommt, wenn du dich über den Kuß lächerlich machst.«
»Glückliche Yo!« Dr. Mei ging zum Ausgang. »Du warst meine Kundry …«
»Ist das eine Schweinerei?«
Mei schüttelte den Kopf und ging auf die Straße. Er sah drei der Wasserchinesen, die ihm von weitem zunickten, sie grinsten breit und rieben sich die Hände.
Gelungen! Tsching Hao-jih war auf dem Weg ohne Wiederkehr. Dr. Mei öffnete seinen Rock, riß sein Hemd auf und ließ den Meerwind über seine freie, dicke Brust wehen. Er kühlte. Doch Mei hatte das Gefühl, innerlich eine einzige lodernde Flamme zu sein.
Der Sampan mit Tsching in dem Jutesack fuhr nicht in die Dschunkenstadt von Yau Ma Tei hinein,
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