Der Dschunken Doktor
Von ihnen schallte fröhliche Musik über die Schwimmende Stadt. »Ich begreife das nicht.«
»Denken Sie immer an die Affenhirnmahlzeit.«
»Grausam und entsetzlich …«
»Wir Chinesen empfinden das nicht so. Alles ist Schicksal, und Schicksal ist unlenkbar. Mit diesem Fatalismus haben wir achttausend Jahre gelebt und große Kulturen geschaffen. Da strichen in Europa noch affenähnliche Menschen durch die Wälder, während wir schon Porzellan bemalten. Das vergißt man nur zu leicht …«
»Ich gebe nicht auf!« sagte Dr. Merker. »Yang, kannst du nicht helfen? Frag du sie nach ihrer Wohnung!«
»Ich will es versuchen.« Sie war gerade an Deck gekommen und hatte das verbundene Mädchen mitgebracht. Der Vater nahm es in Empfang und freute sich zu hören, daß es keine Schmerzen mehr habe. Tief verneigte er sich vor Dr. Mei und Merker und zog sich rückwärtsgehend zurück.
Yang ging hinüber zu den Kranken und tauchte wie Dr. Mei in der Menge unter. Einen Augenblick dachte Merker an einen riesigen, vielarmigen Kraken, der sein Opfer in sich hineinsaugt. Er schüttelte das grausige Bild von sich ab.
»Machen wir mit der Sprechstunde weiter, Dr. Mei«, sagte er heiser. »Wie lange soll sie gehen?«
»Bis wir umfallen und eine Brustwarze als eine Wasserpocke ansehen! Wenn wir nicht mehr können, knalle ich die Tür zu und schlage auf meine Pauke. Dann wissen die da oben: Schluß! Legt euch nieder, Brüder. Morgen früh geht's weiter … Die Verwandten bringen dann das Essen und den Tee. Tausend Gerüche wehen herum … Sie werden es noch riechen. Ich habe sogar erlebt, daß unter den Wartenden Kinder gezeugt wurden. So krank sind die wenigsten, daß sie das nicht mehr können! Fritz, das hier ist eine herrliche, ausgestoßene Welt …«
Sie gingen unter Deck. Der nächste Patient wartete schon geduldig vor der Untersuchungsliege und hatte die Hosen in der Hand. Sein Hinterteil war mit eitrigen Pusteln übersät. Dr. Merker ahnte, daß auch hier Meis uralte Zinksalbe Wunder wirken würde.
Nach einer halben Stunde kam Yang zurück ins Untersuchungszimmer. Ihr Blick verriet alles: kein Erfolg.
»Sie alle vertrauen dir, Fritz«, sagte sie. »Aber sie haben alle auch Angst vor dir. Du bist ein Fremder, eine Langnase, ein Rundauge, und sie haben Angst, daß die Welt des Landes nun in die Welt des Wassers kommen soll. Trotz Radio und Fernsehen, Satellitentelefon und Düsenflugzeugen – euch trennen Jahrhunderte.«
»Das ist doch Blödsinn, wenn es um die Rettung eines Kranken geht!«
»Sie verstehen es noch nicht. Oder anders: Sie wollen es nicht verstehen. Sie sind stolz darauf, frei von allem zu leben!« Yang hob die schmalen Schultern. »Nimm es hin, Fritz. Du lebst in Yau Ma Tei.«
Sie machten Praxis bis 23 Uhr. Dann sagte Dr. Mei: »Nun habe ich zwei Flaschen leer, Fritz. Aufhören! Ab der dritten Flasche ohrfeige ich jeden Patienten und brülle ihn an: Wie kannst du Lümmel es wagen, krank zu sein?! Steck den Arsch in kaltes Wasser, das hilft immer!« Dr. Mei winkte ab. »Aber auch das kennen meine Patienten von mir und halten fest zu mir. Ich schlage vor, wir schließen die Sprechstunde und hören zum Abschluß des Abends noch Bruckners Fünfte! Die Pauke spielt Mei Ta-kung! Meine Nachbarn werden begeistert sein.« Er blickte hinüber zu Yang. »Wie sieht es mit den Honoraren aus?«
»Sechs Hühner, drei Enten, Körbe voll Obst und Gemüse. Zwei Langusten, neun große Fische. Ein Säckchen Sojamehl. Und eine gehäkelte Decke.«
»Na, ist das nichts?« Dr. Mei breitete die Arme aus. Sein dickes Gesicht glänzte. »Wir können fressen wie Dschingis-Khan! Wie steht's mit den Flaschen, Yang?«
»Neun Flaschen. Drei Whisky, zwei Gin, zwei Kognak, zwei Mandarinenlikör …«
»Das sind neue Patienten. Sie wissen noch nicht, daß ich keinen Likör trinke.« Er strahlte Dr. Merker an. »Was sagen Sie nun, Fritz?! Ist das ein Leben?«
»Das ist Ihr Tod. Ich werde die Bezahlung anders regeln.«
»Geld? Junge, was soll ich mit Geld?«
»Zuallererst Medikamente kaufen! Neue Instrumente. Einen vernünftigen Sterilisator. Einen Generator für den Röntgenapparat. Eine neue Liege. Vernünftige Praxisschränke. Einen automatischen Blutdruckmesser. Später ein EKG-Gerät …«
»Wollen Sie hier eine Palastklinik aufmachen, Fritz?« Dr. Mei schlug die fetten Hände über dem Kopf zusammen. Dann setzte er sich plötzlich, faltete die Hände über den Bauch und starrte Dr. Merker entgeistert an. »Das wollen Sie
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