Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
stimmten weitestgehend mit dem überein, was in der Rinde der Bäume verzeichnet war. Jedoch waren auch hier einige Dinge ausgelassen worden, und nicht nur welche, die zu erwähnen sich nicht lohnten. So besagten die Schriften, dass die Vielzahl der verschiedenen Wesen, die auf der Welt lebten, nicht nur durch die Macht der Tochter entstanden war, sondern auch durch den Umstand, dass sich die verschiedenen Völker auf die Macht eines einzelnen Gottes besannen, anstatt auf die ganze Gottfamilie. Außerdem machte sich der Einfluss des Zweitgeborenen bemerkbar. Die Völker bestritten die Macht der jeweils anderen Götter und begannen, nur noch jeweils einem der Götter zu huldigen.
Die Zwerge machten den Vater zu ihrem Gott und nannten ihn fortan Leonis. Seine Autorität machte aus den Bärtigen im Laufe der Zeit die führenden Kriegsherren. Was Taktik, Kriegsmaschinerie und auch Begabung für den Zweikampf betraf, war niemand ihnen ebenbürtig.
Die Elfen beteten zu Tauri, der Tochter. Ihnen wurde die Schönheit und die Anmut zuteil, aber auch die Verachtung für alles, was nicht ihrem Ideal entsprach.
Die Menschen glaubten an die Macht von Regor, dem Erstgeborenen. Weisheit überkam sie, die Kraft, aus Fehlern zu lernen und so zu einem der mächtigsten Völker der Welt zu werden.
Die Mutter, genannt Cephei, blieb bei ihren Lieblingen, den Halblingen, in hohem Ansehen. Sie waren es, die das Leben und den Tod so nahmen, wie sie von ihrer Göttin diktiert wurden. Sie verstanden den Sinn des Lebens und ihre eigene Vergänglichkeit, ohne an dem Wissen zu verzweifeln. Sie erfreuten sich ihres Daseins und trauerten um die, die von ihnen gingen, ohne es als Bestrafung anzusehen und Cephei zu verfluchen.
Übrig blieb Hadar, der Zweitgeborene. Er fand in den Grünblutern sein Volk. Wie der dunkle Zwilling die Völker der Orks und Trolle verändert hatte, wusste jeder. Sie waren getrieben vom Hass und der Verblendung gegenüber allen anderen Völkern.
Der Schreiber des Buches hatte gute Arbeit geleistet. Die Zusammenfassung las sich wesentlich flüssiger als die originale Schrift um die Weißrindenbäume. Senetha las Stunde um Stunde von Kontinenten, die Milo nur vom Namen her kannte, und von denen er keine Vorstellung hatte, wo sie lagen, oder wer sie bevölkerte. An den Weißrindenbäumen war alles verzeichnet, was sich zwischen den Göttern und den Sterblichen zugetragen hatte. Von großen Schlachten war die Rede wie auch von heiligen Männern, die den Namen ihrer Gottheit in ferne Länder trugen.
Am Abend war Senetha gerade einmal im oberen Drittel des ersten Baumes angekommen. Die Schrift endete immer dort, wo der Stamm sich das erste Mal teilte und in die Krone überging. Für Milo wäre dies bereits eine Herausforderung gewesen, doch die hochgewachsene Magierin musste sich nur etwas strecken, um auch die oberen Sätze erkennen zu können. In Milos und Dorns Kopf kreisten Namen und Jahreszahlen umher wie ein Schwarm Bienen um einen blühenden Fliederstrauch.
Senetha schlug vor, ganze Passagen auszulassen, die wenig Hoffnung auf Erkenntnis versprachen, und so etwas Zeit und Nerven zu sparen. Dorn und Milo stimmten bereitwillig zu, auch wenn Milo ein schlechtes Gewissen hatte, denn Meister Gindawell hätte dies niemals gutgeheißen. Wenn es um das Wissen der Götter ging, war er unbarmherzig gewesen. Doch auf Grund ihrer mangelnden Vorräte war dies die einzig richtige Entscheidung, befand er. Außerdem drohte ihnen vielleicht doch ein Angriff von den Zwergen, und wer konnte schon sagen, was passieren würde, falls sie in Blätterheim einfielen.
So verging ein weiterer ganzer Tag, an dem Senetha las und die anderen beiden zuhörten. Milo hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, Hinweise auf das Blut des Zweitgeborenen zu finden. Immerhin hatte sich herausgestellt, dass der Zweitgeborene ein Gott war, und blutende Götter waren nicht gerade alltäglich. Götter vergossen Blut, aber es war nicht ihr eigenes. Des Weiteren hatten sie immer noch keine Ahnung, was mit dem Lamm gemeint sein könnte, nach dem Milo suchen sollte.
»Hier ist eine ganze Passage über den Zweitgeborenen«, verriet Senetha. »Das Ganze liegt gute zweitausend Jahre zurück, wenn ich in der Chronologie richtig bin.«
»Lies vor, das ist alles, was wir bis jetzt haben. Langweiliger als der Rest kann es auch nicht sein«, grunzte Dorn.
Senetha drehte sich bestürzt um.
»Langweilig?«, wiederholte sie. »Du hast gerade erfahren, dass die Götter
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