Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
einer verfallenen Hütte zu wohnen und mich darüber zu freuen, bei dir zu sein.«
»Aber Senetha«, stotterte Dorn, fand dann jedoch nicht die richtigen Worte und verstummte.
»Nichts aber«, fauchte sie ihn an. »Nur weil du deine Talente nicht nutzen willst, heißt das nicht, dass ich meine verkümmern lassen und durch Hausarbeiten ersetzen muss. Ich bin eine Magierin, nicht dein kleines Püppchen. Ich werde mich mit dem Halbling auf die Suche nach dem Blut des Zweitgeborenen begeben. Vielleicht bringt es kein Geld ein, aber ich versuche zumindest, mein Schicksal zu ändern, und laufe nicht wie du davon.«
Senetha schnappte sich ihre Decke und die spärliche Ausrüstung und stampfte wütend davon, ohne Dorn eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie ging hinüber zu einem abgestorbenen Baum und schlug ihr Lager dort auf.
Dorn saß nur da mit weit aufgerissenen Augen und bewegte die Lippen, ohne dass er einen Ton von sich gab. Erst als Senetha ihren blauen Umhang um sich gezogen und sich in die klamme Decke eingerollte hatte, formte der Söldner die ersten verständlichen Worte.
»So ist es nicht«, stammelte er, »und das weißt du auch.«
Milo kam diese plötzliche Auseinandersetzung bekannt vor. In Eichenblattstadt waren die Ratsmitglieder ähnlich feindselig zueinander gewesen. Es war wie ein Funken in einem Reisigbündel. Es kam aus heiterem Himmel, und wie es endete, hatte er bereits einmal mit ansehen müssen.
Dorn wollte sich erheben und zu Senetha gehen. Man sah seinem Gesicht an, dass die erste Verblüffung gewichen war, und nun Zorn in ihm aufkochte.
»Nicht«, sagte Milo. »Lass sie erst einmal in Ruhe. Alles, was du jetzt tun oder sagen könntest, würde es nur noch schlimmer machen. Am besten ihr schlaft beide eine Nacht darüber. Morgen können wir immer noch entscheiden, was wir tun wollen. Vielleicht gibt es noch weitere Hinweise in der Borke der Weißrindenbäume. Wenn du jetzt zu ihr gehst, wirst du sie verlieren. Ich spüre das.«
Es schien das Wort ›verlieren‹ gewesen zu sein, das Dorn in seiner Bewegung erstarren und zurück auf seine Decke fallen ließ.
»Ich habe sie noch nie so aufgebracht gesehen«, sagte er. »Ich dachte immer, alles, was sie wollte, ist, mit mir zusammen zu sein.«
»Das will sie auch«, flüsterte Milo. »Sie hat es nur für den Moment vergessen. Morgen wird wieder alles gut sein. Lass uns jetzt ebenfalls schlafen. Einen Tag lang den alten Geschichten zu lauschen ist genauso anstrengend, wie Unkraut aus einem Erdbeerbeet zu zupfen. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen, wenn uns die Flucht von hier gelingen soll.«
Bevor Milo zu Ende gesprochen hatte, hatte Dorn sich bereits in seine Decke gewickelt und auf die Seite gerollt.
Milo war erstaunt und erleichtert, dass seine kurze Ansprache den Söldner umgestimmt hatte. Vielleicht reichte eben auch ein einziger Tropfen Wasser aus, um den Funken wieder zu löschen. Wenn es so war, wog seine Untätigkeit während der Ratsversammlung doppelt schwer.
Es half nichts, sich jetzt Vorwürfe zu machen, entschied er und legte sich ebenfalls schlafen. Es dauerte lange, bis er müde wurde. Viele Gedanken kreisten in seinem Kopf, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen wollten. Aber irgendwann nahm der Körper sich das, was er brauchte, und er schlief ein.
Milo schreckte hoch, als er Senethas Schreie hörte. Es war finstere Nacht, und der Wind rauschte durch die Blätter der Weißrindenbäume. Milo konnte noch nicht lange geschlafen haben. Er tastete nach seinem Dolch am Gürtel und sprang auf.
»Senetha!« Dorns Ruf hallte über die Lichtung. »Senetha, wo bist du?«
Erneut schrie die junge Magierin auf.
Milo stolperte durch die Dunkelheit in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Er zückte seinen Dolch, hielt die Klinge aber hinter seinem Rücken, um nicht unbeabsichtigt Senetha oder Dorn zu verletzen.
Milo stieß mit dem Kopf gegen einen Baumstamm. Die Rinde war kalt und auf unnatürliche Weise feucht. Er umklammerte den Stamm, um nicht zu stürzen.
»Senetha«, keuchte er.
Ein weiterer Schrei zerriss das Tosen des Windes. Der Aufschrei erstarb, bevor er seinen Höhepunkt erreichte.
Milo fühlte, wie etwas Warmes von seiner Augenbraue tropfte und ihm zähflüssig über die Wange kroch. Etwas davon benetzte seine Lippe. Es schmeckte metallisch und salzig. Blut , dachte er zuerst und schob es auf den Zusammenstoß mit dem Baum. Er musste sich eine Platzwunde geschlagen haben. Doch dann wurden es
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