Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Bärtigen mit kaltem Fleisch und trüben Augen gegenübergesehen.«
Langsam begriff Milo, wovon die Grünbluter sprachen. Die wandelnden Toten, die sie Ahnen nannten, sie entsprangen nicht dem Gemetzel der Zwerge an den Elfen. Es war kein Fluch der Baumbewohner, um ihre Gefallenen zu sühnen. Das Land selbst brachte die Toten dazu, sich zu erheben.
»Wenn es stimmt, was Ihr sagt, General Schrak, dann werden sie uns einfach alle überrennen«, sagte Xumita. »Gegen so eine Übermacht können wir nicht bestehen.«
»Aber Euer Lamm kann es? Dann zeigt mir, wo es ist, und ich werde es auf Händen tragen!«, brüllte Schrak. »Ich jedenfalls sehe kein Lamm. Ich sehe nur zwei verängstigte Dürrzwerge und einen gebrochenen Söldner.«
Xumita schaute geschlagen zu Boden. Er wusste, dass Schrak Recht hatte.
Milo hingegen sah das erste Mal wieder einen Funken Hoffnung. War das die Chance, die er nutzen musste? Er erinnerte sich daran, was Meister Gindawell über solche Situationen einmal gesagt hatte. Wenn niemand eine Antwort hat, ist die Stunde des Lügners gekommen. Zwar hatte sich die Weisheit auf eine der Ratssitzungen in Eichenblattstadt bezogen, aber Milo hoffte, dass sie überall Gültigkeit besaß. Vielleicht gelang es ihm, wenigstens seinen Bruder und sich zu retten.
»Ich habe das Lamm der Mutter gefunden!«, rief Milo mit erstickter Stimme.
Alle Blicke ruhten auf ihm. Es waren jedoch keine freudigen oder erleichterten Gesichter. Es war viele Dutzend Mal das Gesicht seines Vaters, der ihn bei einer Lüge ertappte. Nicht einmal Xumita Latorinsis’ Miene zeigte den Funken einer Hoffnung. Milo hatte schon zu oft gelogen, um sich von so etwas verunsichern zu lassen. Klang eine Lüge unglaubwürdig, musste man noch eins oben draufsetzen.
»Das Lamm der Mutter, das ihr sucht, befindet sich im Krähenturm. Sein Name ist Othman.«
Zu den erstaunten Gesichtern gesellte sich nun auch noch eine unangenehme Stille. Milo rechtete damit, jeden Moment von einer Meute aufgebrachter Grünbluter niedergemacht zu werden. Doch stattdessen trat Schrak vor, beugte sich zu ihm hinunter und funkelte ihn mit seinen gelben Augen an.
»Dann bring ihn zu uns«, schnaubte er. »Dir bleibt bis zum Tagesanbruch Zeit. Wenn du es bis dahin nicht geschafft hast, werde ich deinen Bruder den Ahnen zum Fraß vorwerfen.«
»Es wäre aber besser, wenn mein Bruder mich begleiten würde«, sagte Milo. »Wenn ich ohne ihn beim Krähenturm auftauche, wird Meister Othman vielleicht misstrauisch.«
Schrak wandte sich ab und trottete zurück zu seinem Platz an der Feuerstelle. »Ihr Dürrzwerge seid ein listiges Volk. Aber wir Grünbluter sind nicht so dumm, das nicht zu erkennen. Du kannst den anderen mitnehmen. Dieser Othman wird den Unterschied nicht merken, ihr seht ohnehin alle gleich aus.«
Was danach kam, floss an Milo vorbei wie ein träger, zähflüssiger Traum, nur die flehenden Augen seines Bruders blieben ihm in Erinnerung. Er kam erst wieder zu sich, als er gemeinsam mit Nelf auf die Lichtung um den Krähenturm trat. Der Ort hatte alles das verloren, was ihn in Milos Erinnerungen ausmachte. Er war nicht mehr der ruhende Pol des Waldes. Das Gefühl von Sicherheit und Frieden war verschwunden. Selbst der Turm, der sonst an die typisch kindliche Vorstellung der Behausung eines Zauberers mit buntem Spitzhut und einem langen weißen Bart in einem Märchen erinnerte, besaß nun nur noch das Flair eines knochigen Fingers, der aus der Erde ragte. Schon von Weitem sah Milo die verkohlten Leichname vor dem Eingang zum Krähenturm liegen. Noch mehr lagen etwas weiter entfernt.
»Dieser Othman scheint nicht gerade zimperlich zu sein«, flüsterte Nelf. »Glaubst du, er wird uns helfen?«
»Ich weiß nicht, ob er mächtig genug ist«, antwortete Milo. »Erist ein komischer Kauz, aber ganz umgänglich. Meine Tante arbeitet seit vielen Jahren für ihn als Haushälterin.«
»Auf jeden Fall weiß er, wie man sich die Orks vom Leib hält.«
Da konnte Milo nur zustimmen. Er hätte niemals gedacht, dass Meister Othman in der Lage wäre, so etwas zu tun. Aus den Geschichten seiner Tante hatte er immer herausgehört, dass der alte Zauberer zwar etwas von Magie verstand, doch diese nur zu obskuren Dingen taugte, wie Gegenstände zum Leuchten zu bringen, Metallstangen so weich zu machen, dass man einen Knoten hineinmachen konnte, und die Tinte auf Schreibfedern nicht eintrocknen zu lassen. »Unnütze Kinkerlitzchen« hatte sie es immer genannt. Dass
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